Auf der Flucht vor den Nazis vom Dach gefallen Die jüdische Familie Gumpert aus Werne

Auf der Flucht vom Dach gefallen: Die jüdische Familie Gumpert
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Die drei Geschwister Helene, Cäcilie und Louis Gumpert führten ein Wäsche- und Hutgeschäft an der Bonenstraße in Werne, als sich die Pogromnacht 1938 näherte. Dass die Familie gut in die Werner Gesellschaft integriert war, zeigt nicht nur, dass alle insgesamt fünf Geschwister in Werne geboren wurden, sondern auch, dass Louis Gumpert zum Vorstand des Kleinplacht- und Gartenvereins gehörte. So schreibt es Franz-Josef Schulte-Althoff in seinem Buch „Die Stadt Werne im Dritten Reich“.

In der Nacht des 9. November 1938 zog ein Mob aus SS-Anhängern und Bürgern aus Häusern und Gaststätten durch die Straßen, um die bekannten Adressen der jüdischen Familien aufzusuchen und sie vorgeblich für den Mord am NS-Diplomaten Ernst vom Rath in Paris büßen zu lassen. Auch die Familie Gumpert traf die Wut der Nazis in dieser Nacht.

Laut Schulte-Althoff drangen vier SS-Männer, darunter ein uniformierter Polizeibeamter, in das Haus der Gumperts ein. Mehr Menschen folgten den Nazis. „Sie verwüsteten die Einrichtung, zerschlugen die Möbel und warfen Gegenstände aus dem Fenster auf die Straße.“

In einem Augenzeugenbericht aus dem Buch Werne 1933 bis 1945 heißt es: „Man hörte eine Menschenmenge auf der Straße vor dem Haus des Rechtsanwaltes [Spaning, Anm. d. Red.] aufgeregt reden. Ich fragte folglich, was geschehen sei, und man erklärte mir, dass Herr Gumpert auf seiner Flucht vor der SS soeben in die Gasse neben Spanings Haus gefallen sei. Herr Gumpert wollte vor den Nazis fliehen und sprang deshalb aus Verzweiflung von Schnieders Dach auf das Dach des Hauses des Rechtsanwaltes Spaning.“

Er sei auf das Kopfsteinpflaster gestürzt und habe dort „völlig verzweifelt und verängstigt, schwer verletzt, ohne weitere Fluchtmöglichkeiten, auf dem Boden gelegen“, heißt es. Weil Louis Gumpert in die durch ein Tor abgesperrte Gasse des Hauses des Anwaltes gefallen war, schrie der Rechtsanwalt die pöbelnde Menge an, sie wegen Hausfriedensbruch zu verklagen, würden sie das Tor durchbrechen. Doch die Drohung hielt die Masse laut Angaben des Augenzeugen nicht ab.

Haus der Familie Gumpert
Rechts ist das Haus der Familie Gumpert zu erkennen. © Stadtmuseum Werne

Schulte-Althoff schreibt in seinem Buch: „Als der Polizeibeamte aus dem Haus kam und den schwer verletzt auf dem Boden liegenden Juden sah, stieß er ihn mit dem Fuß an und fragte ihn, den er sehr wohl kannte, verhöhnend, wer er sei und wie er hierher komme.“ Der Polizeibeamte habe ihn gefragt, ob er Geld habe, dann komme er ins Krankenhaus. Ein anderer SS-Mann forderte, Louis Gumpert „verrecken“ zu lassen „und an einem Strick oder einer Kette in die Horne“ zu schleifen.

„Den oben in der Wohnung Gumpert verbliebenen SS-Kameraden rief der Polizeibeamte zu, auch ‚ein Judenweib‘ herunterzuwerfen“, schreibt Schulte-Althoff. In einem „Hagel von Steinen und Stöcken“ wurden auch alle noch intakten Fensterscheiben des Hauses zerstört. Laut Augenzeugenbericht rief der Rechtsanwalt derweil das Werner Krankenhaus an, um einen Krankenwagen anzufordern. „Selbst nachdem der vor Schmerzen weinende Mann auf die Trage gelegt worden war und zum Krankenhaus transportiert wurde, schlugen einige aus der wartenden Masse noch auf den wehrlosen Verletzten ein.“

Louis Gumpert überlebte Sturz

Trotz Behandlungsverbotes von jüdischen Patienten wurde Louis Gumpert versorgt. Auch wenn Augenzeugen damals berichteten, dass Louis Gumpert an den Folgen seiner Verletzungen verstarb, überlebte er den Vorfall aber nach Monaten im Krankenhaus. „Im Geschäft von Gumpert wurden Hüte sichergestellt, die sich dort zur Umarbeitung befanden, die Eigentümer wurden später in der Zeitung aufgefordert, sie sich in der Geschäftsstelle der NSDAP abzuholen“, schreibt Heidelore Fertig-Möller in einem Beitrag in dem Buch „Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe“.

Einem Zeitungsbericht des Westfälischen Anzeigers (WA) vom 9. November 2013 zufolge zogen Cäcilie, Helene und laut Josef Börste auch Louis nach der Reichskristallnacht zur Schwägerin nach Düsseldorf. Von dort wurden sie am 21. Juli 1942 nach Theresienstadt und am 21. September 1942 nach Treblinka deportiert, „wo sie ermordet wurden“.

Einwohnermeldekarte der Familie Gumpert
Die Einwohnermeldekarte der Familie Gumpert © Stadtmuseum Werne

Louis Gumpert starb laut WA im Alter von 66 Jahren am 12. Juli 1942 im Ghetto von Lodsz. Bruder Sally Gumpert, geboren am 4. Juli 1863, hat den Holocaust nicht mehr erlebt. Er starb am 30. März 1928 in Düsseldorf. Bruder Leopold, geboren am 21. Mai 1878, gelang es laut WA, nach Paraguay auszuwandern. Von dort habe er ein Entschädigungsverfahren angestrebt, so der WA damals. Gemeinsam mit seiner Großnichte Ruth Preuss wurde je zur Hälfte „Anspruch auf den Nachlass beziehungsweise Entschädigung zuerkannt“.

Aus den Akten zum Wiedergutmachungsverfahren geht laut WA hervor, wie die Familie nach der Pogromnacht erste Teile des Eigentums verkaufte, den Laden vermietete und der Warenbestand enteignet wurde. Die Stadt Werne kaufte das Haus der Gumperts an der Bonenstraße 20 damals für 22.000 Reichsmark. Als die Gumperts dann Rückerstattung forderten, hieß es dazu im WA: „Stadtdirektor Dr. Norbert Zumloh erhob im Februar 1950 Widerspruch gegen die Rückerstattung.“

Damals, so die Begründung der Stadt, sei der Preis „im Vergleich mit anderen, seinerzeit mit nichtjüdischen Eigentümern geschlossenen Verträgen angemessen gewesen“. Nachdem Leopold Gumpert einen Vergleich anbot, der vor dem Landgericht Münster geschlossen wurde, erhielten Ruth Preuss und Leopold Gumpert je 9000 D-Mark an Abfindung.

Dieser Text ist ursprünglich am 5. November 2024 erschienen. Wir haben ihn erneut veröffentlicht.