Über Polen floh die Journalistin Olena Bezhanska aus Lwiw nach Deutschland. Jetzt lebt sie in Gaxel.

Über Polen floh die Journalistin Olena Bezhanska aus Lwiw nach Deutschland. Jetzt lebt sie in Gaxel. © Luca Füllgraf

Zuflucht in Vreden: Olena Bezhanska (28) floh vor den Bomben in der Ukraine

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Als der Krieg in der Ukraine begann, wollte Olena Bazhanska vor allem eins: Helfen. Dann floh die Journalistin doch und landete schließlich in Gaxel. Dort lebt sie zwischen zwei Welten.

Vreden

, 01.01.2023, 07:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Der Mensch gewöhnt sich an alles, selbst an Krieg. Fast jeden Morgen wurde Olena Bazhanska in Lwiw (Lemberg) diesen Frühling vom Bombenalarm aus dem Bett und in den Keller geholt. Manchmal fielen russische Marschflugkörper und ballistische Raketen, manchmal passierte nichts. Irgendwann blieb sie einfach im Bett liegen. Wie viele andere Menschen hatte sich die 28-Jährige an die Alarme gewöhnt. Doch als die lauten Bomben sie weckten, lag sie wie erstarrt im Bett.

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Olena Bazhanska zeigt ein Video – vom 18. März – das sie auf ihrem Balkon in Lwiw aufgenommen hat. In der Ferne sind dunkle Rauchschwaden zu sehen, der Bombenalarm ist zu hören. Rund ein halbes Jahr später lebt die 28-Jährige in Gaxel. Inzwischen könne sie besser mit der Angst umgehen. Flugzeuge am Himmel und Feuerwerk seien für sie noch immer schwer zu ertragen, sagt Olena Bazhanska. Aber auch das werde langsam besser.

„Ich mag es. Es ist friedvoll hier“

Aus der 720-Tausend-Einwohner-Stadt Lwiw flüchtete die Journalistin ins kleine Gaxel: „Ich mag es. Es ist friedvoll hier“, sagt sie. Olena Bazhanska wohnt in einem Haus mit zwei ebenso aus der Ukraine geflüchteten Frauen und deren Kindern. Sie hat ein eigenes Zimmer. Küche und Bad teilen sich die drei Parteien. Das Zimmer von Olena Bazhanska ist spartanisch eingerichtet. Ein Bett, ein schmaler Spind, ein eigener Kühlschrank und ein Schreibtisch. Wlan gibt es keins und den Stuhl holt sie aus der gemeinsamen Küche. Auf dem Schreibtisch liegt ein Deutsch-Lernbuch, daneben zwei Ausgaben der Münsterland Zeitung. Anders als in Deutschland würden in der Ukraine leider vor allem Rentner Zeitungen aus Papier lesen. „Die Zeitungen benutze ich zum Deutschlernen und um auf dem Laufenden zu bleiben“, sagt sie. Sie freue sich, wenn über kleine ukrainische Triumphe berichtet wird.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer feierten ihren Nationalfeiertag am Vredener Rathaus. Olena Bezhanska – im traditionellen weißen Oberteil und Jeansrock – war auch dabei. (Unten rechts im Bild)

Die Ukrainerinnen und Ukrainer feierten ihren Nationalfeiertag am Vredener Rathaus. Olena Bezhanska – im weißen, bestickten Hemd, ein Geschenk ihres Onkels, der an der Front ist – war auch dabei. (Unten rechts im Bild) © Hannah Lehmbrock

Olena Bazhanska lebt zwischen zwei Welten. Sie ist das einzige Mitglied ihrer Familie, das flüchtete. Selbst ihre Großeltern seien noch in der Ukraine. Ihr Vater ist seit Kriegsbeginn Flugzeugmechaniker, ihr Onkel für den Einsatz im Kriegsgebiet mobilisiert. „Wir haben große Angst“, sagt sie. Olena Bazhanska hat zwei jüngere Brüder, 20 und 23. Die würden nur im Notfall eingezogen werden, sagt sie. Das Land verlassen dürfen sie aber auch nicht.

Mehr als tausend Kilometer westlich fährt die 28-Jährige jeden Dienstag und Donnerstag morgens mit dem Fahrrad von Gaxel zum Pfarrheim nach Vreden, um dort Deutsch zu lernen. „Ich mache eigentlich alles mit dem Rad“, sagt sie. Unter dem Gepäckträger klemmt ein durchsichtiges Regencape. Eines Morgens fanden sie und ihre Mitbewohnerinnen das Rad im Garten. Sie vermuten, dass es ein Geschenk aus der Nachbarschaft oder von der Stadt Vreden ist.

„Die Nachbarn sind sehr nett“, sagt sie. „Sie haben uns mit Kuchen und Süßigkeiten begrüßt und dem Sohn meiner Mitbewohnerin einen Trampeltrecker geschenkt. Außerdem haben sie uns mit Werkzeug an den Rädern geholfen. Wir sind sehr dankbar.“ Auch auf die staatliche Hilfe in Deutschland lasse sie nichts kommen: „Ich war überrascht, wie schnell und gut alles organisiert wurde.“

Flucht mit zwei Rucksäcken

Dabei waren viele in Deutschland bei Kriegsbeginn erstmal überrascht. Ob ihr das auch so ging? Bei der Regelmäßigkeit, mit der Russland in der Historie versuchte, die Ukraine zu annektieren, sei der russische Krieg eigentlich nicht verwunderlich – spätestens nach der Krim-Annexion 2014. „Aber auch wir waren überrascht, dass das, was am Donbass passierte, auch zu uns kommt“, sagt sie. Doch der Krieg kam.

Olena Bezhanska ist in Vreden und Gaxel vor allem mit dem Fahrrad unterwegs. Für weitere Strecken wie nach Borken nimmt sie den Bus.

Olena Bezhanska ist in Vreden und Gaxel vor allem mit dem Fahrrad unterwegs. Für weitere Strecken wie nach Borken nimmt sie den Bus. © Luca Füllgraf

„Wenn du in der Wohnung sitzt und nur die Nachrichten liest, dann wirst du verrückt“, sagt sie. Olena Bazhanska wollte helfen. In der ersten Kriegswoche wendet sie sich ans Wehrmeldeamt und meldet sich zur Territorialverteidigung. Allerdings ist sie damit nicht die Einzige. Über Freunde landet sie dann bei der Lwiwer Studentenorganisation SDL.

Rund sechs Wochen engagierte sie sich ehrenamtlich für die Organisation. Anfangs sucht sie Busverbindungen für Menschen, die aus den besetzten Gebieten fliehen müssen. Später, als die ukrainischen Läden wie leergefegt sind, hängt sie sich ans Telefon und versucht aus Polen Medikamente, Wärmebildgeräte und Militäruniformen zu beschaffen.

Nach sechs Wochen geht ihr selbst das Ersparte aus. Zu dieser Zeit funktioniert in Lwiw nur das Nötigste: Krankenhäuser, Apotheken und Supermärkte. Die studierte Journalistin arbeitet für knapp drei Monate in einem kleinen Supermarkt in ihrer Straße. Als sie sieht, wie Menschen über verbrannte Fotos und Erinnerungen weinen, packt sie zwei Notfall-Koffer. „Das ist das Härteste“, sagt sie. Im einen Koffer waren Kleidung und Hygieneartikel, im anderen Fotos und Bücher von ihren Vorfahren, die sie versuchte zu digitalisieren und zu retten.

„Ich habe in dieser Zeit gehofft, dass der Krieg bald endet, aber dann realisiert, dass das nicht so schnell passiert“, sagt sie. „Dann habe ich mich entschieden, nach Deutschland zu fliehen“. Statt zwei Koffer nimmt sie nur zwei Rucksäcke mit. Ihre Eltern erlauben ihr nicht, das Archiv mitzunehmen, weil sie an das schnelle Ende des Kriegs glauben.

Olena Bazhanskas Flucht beginnt mit dem Bus. Am 18. Juli fährt sie mit dem Bus ins polnische Kattowitz, wie ein Stempel in ihrem blauen Reisepass zeigt. Die Busfahrt dauert rund zwölf Stunden. Ebenfalls im Bus sind nur Menschen, die auch aus der Ukraine in den Westen fliehen wollen. Mit dem Flugzeug geht es dann nach Dortmund, wo sie eine entfernte Freundin hat. Von dort kommt sie in die Landeserstaufnahmeeinrichtung NRW nach Bochum und weiter in zwei Flüchtlingslager. „Das Erste war in Bielefeld, das Zweite in der Nähe von Paderborn“, sagt sie.

Etwa zweieinhalb Wochen nach Beginn ihrer Flucht kommt sie nach Gaxel und wird am 4. August in Vreden registriert. „Ich habe in Deutschland jetzt schon mehr Unterlagen als in der Ukraine“, sagt sie und zeigt mit den Fingern einen daumendicken Stapel. Im August war sie dafür viel mit dem Bus unterwegs, fuhr nach Münster und immer wieder nach Borken.

Sie will unbedingt zurück in ihre Heimat

Inzwischen lebt sie in Gaxel. Sie war schon im Meddosee in Winterswijk schwimmen und geht gerne im Wald spazieren. Außerdem hat sie sich anfangs darüber gewundert, dass sonntags alle Geschäfte geschlossen sind. Gemeinsam mit dem siebenjährigen Sohn ihrer Mitbewohnerin hat sie eine blau-gelbe Flagge an ihrem Haus aufgehangen. Ihm gehören auch die kleinen Crocs mit dem Wappen der Ukraine vor der Haustür.

„Er möchte zurück in die Ukraine, und wenn er im Garten spielt, dann spielt er Krieg“, sagt sie. Ob sie zurück in die Ukraine möchte, wenn der Krieg endet? „Ich vermisse mein Zuhause jetzt schon. Ich möchte unbedingt zurückkehren“, sagt Olena Bazhanska: „Wenn ich jemals Kinder haben werde, möchte ich sie nur in der Ukraine großziehen.“ Vor den Krieg habe sie bereits ein Grundstück in der Nähe von Lwiw dafür gefunden.

Die Crocs des Sohnes ihrer Mitbewohnerin zeigen das ukrainische Wappen.

Die Crocs des Sohnes ihrer Mitbewohnerin zeigen das ukrainische Wappen. © Luca Füllgraf

Und: Gerade fühle sich nicht wohl dabei, Geld zu bekommen, ohne etwas dafür zu tun. Das ist sie nicht gewohnt. Schon während des Journalismus-Studiums ging sie als freie Mitarbeiterin auf Konzerte und Ausstellungen und schrieb darüber. Anschließend arbeitete sie vier Jahre lang als Journalistin.

Sie zeigt ihr Autorenprofil bei einem lokalen Medienunternehmen. Die Webseite sei im August attackiert worden und lasse sich nur noch über den Webcash aufrufen. Die Themen, über die sie als Lokaljournalistin schrieb: illegale Bauten und Korruption, Stadtleben und natürlich Corona. Im letzten Oktober hatte sie ihren Job gekündigt und wollte sich nach etwas Neuem umschauen. Dann kam im Februar der Krieg.