Was passierte wirklich in einer Unterkunft am 3. September 2022 in Vreden? Diese Frage sollte vor dem Amtsgericht in Ahaus geklärt werden. Angeklagt war ein 24-Jähriger. Er soll einen Mitbewohner zunächst mit einer Schere und dann mit einem Messer bedroht und verletzt haben.
Laut Anklage soll der 24-Jährige einem 20-jährigen Mitbewohner mit den Worten „Ich bring dich um“ gedroht haben. Im Zimmer des Mannes soll es dann zu einem Faustkampf gekommen sein. Mit einer Schere habe der 24-Jährige versucht, auf seinen Gegner einzustechen. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung soll der Mann zudem ein Messer gegen seinen Gegner eingesetzt und ihm damit eine tiefe Schnittwunde zugefügt haben. Der Angeklagte hatte an diesem Abend 1,5 Promille Alkohol im Blut.
Verschiedene Geschichten
So weit die Anklage. Doch das wollte der 24-Jährige nicht so stehen lassen. Das sei alles falsch. Seine Version: Alles habe damit angefangen, dass der 20-Jährige ihn im August bereits einmal tätlich angegriffen und verletzt habe. Der vermeintliche Grund: In der Unterkunft sei bekannt geworden, dass er Geld habe, weil er einmal unschuldig in Haft gesessen habe und dafür entschädigt worden sei, so der 24-Jährige. Er habe daraufhin seinen Anwalt eingeschaltet und 500 Euro Schmerzensgeld von dem 20-Jährigen gefordert. Der Brief vom Anwalt sei eben an diesem 3. September 2022 bei dem Geschädigten eingetroffen.
An dem Abend habe er dann friedlich in seinem Zimmer gesessen, ferngesehen und Bier getrunken, so der Angeklagte weiter. „Ich will keine Probleme haben“, betonte er mehrmals. Der 20-Jährige habe sich dann mit Gewalt Zutritt zu dem Zimmer verschafft und den Angeklagten mit der Schere angegriffen. Er habe sich zur Wehr gesetzt, so der 24-Jährige. „Ich dachte, der bringt mich um.“ Das Messer habe in einer Schublade gelegen.
Messerstich zugegeben
Dass er den Geschädigten mit dem Messer verletzt habe, gab der Angeklagte zu. Aber zur Verteidigung, wie er selbst sagt. „Ich hatte Angst.“ Daraufhin sei der 20-Jährige weggelaufen und habe seine Freunde verständigt, die zu diesem Zeitpunkt auf der Kirmes gewesen sein sollen.
So weit die Geschichte des Angeklagten. Es folgten vier weitere: die des Geschädigten und die von drei Zeugen. Jede klang ein bisschen anders.
Der Geschädigte sagte aus, die Auseinandersetzung habe im Flur der Unterkunft begonnen. Dann sei der Angeklagte in sein Zimmer und habe die Schere geholt. Wie Blut in das Zimmer des Angeklagten kam, das konnte sich der 20-Jährige nicht erklären. Der Rest seiner Aussage stimmte weitestgehend mit der Anklageschrift überein.
Ein 22-jähriger Freund des Geschädigten, der als Zeuge geladen war, erklärte, er habe an diesem Abend mit Freunden Fußball geschaut – auf derselben Etage, auf der die Auseinandersetzung stattfand. Auch der Geschädigte sei dabei gewesen, habe sich dann aber verabschiedet und sei rausgegangen.
Als der Zeuge Schreie hörte, sei er rausgelaufen, um nach dem 20-Jährigen zu schauen. Zunächst sei er nach oben auf sein Zimmer gelaufen, als er ihn dort nicht fand, lief er wieder zurück nach unten und habe gesehen, wie der Angeklagte mit dem Messer auf seinen Freund einstach. Aus Angst sei er nicht dazwischengegangen. Als der Angeklagte weg war, habe er sich um seinen verletzten Freund gekümmert, so der 22-Jährige.
Zeugen widersprechen sich
Der nächste Zeuge will mit dem 22-Jährigen zusammen hinausgegangen sein, obwohl dieser zuvor berichtet hatte, er wäre allein gewesen. Der dritte Zeuge will während der ganzen Zeit im Zimmer geblieben sein.
Letztendlich unterschieden sich die Geschichten in den Details doch deutlich. Wer hat den Notruf gewählt? Wer hat dem Verletzten sein T-Shirt gegeben, um die Blutung zu stillen? Hat der 22-Jährige an der Tür zur Wohnung oder draußen am Fenster geklopft, um Hilfe von den vor dem Fernseher gebliebenen Freunden zu erbitten? Hätte er den Streit nicht schon sehen müssen, als er die Treppe hochlief, weil doch die Tür des Zimmers offen stand?
„Ich habe arge Zweifel an der Tat“, brachte die Richterin es schließlich auf den Punkt. „Wir haben hier vier verschiedene Geschichten gehört.“ Dass er mit dem Messer zugestochen habe, habe der Angeklagte zwar selbst bestätigt. Aber war es vielleicht doch nur Notwehr? Darauf deutete eine Aussage eines Zeugen hin, der sagte, er habe gesehen, wie der 20-Jährige mit der Schere im Flur gestanden habe.
Aus U-Haft entlassen
Letztendlich hob die Richterin den Haftbefehl gegen den 24-Jährigen auf. Der hatte seit den Geschehnissen im September in Untersuchungshaft gesessen. „Was wirklich passiert ist, ist diffus geblieben“, so die Richterin. Zugunsten des Angeklagten müsse sie von Notwehr ausgehen.
Ganz ohne Strafe kam der Angeklagte an diesem Tag aber nicht davon. Denn es stand auch noch die Erpressung zweier städtischer Mitarbeiter im Raum. Weil der 24-Jährige seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sei, seien ihm die Leistungen vom Sozialamt gekürzt worden. Mit den Worten „Wenn morgen nicht 260 Euro auf meinem Konto sind, dann wird etwas Schlimmes passieren“, soll er den Sozialamtsmitarbeitern gedroht haben. Das Ganze habe er dann nochmal telefonisch wiederholt. „Ich habe mich schon unter Druck gesetzt gefühlt“, sagte der zuständige Sachbearbeiter, der als Zeuge geladen war, vor Gericht.
Für diese versuchte Erpressung wurde der Angeklagte zu 45 Tagessätzen à 20 Euro verurteilt.