Kseniia und Mia Sophie beugen sich gemeinsam über ihre Schulhefte. Mia Sophie erklärt Kseniia grammatische Fachbegriffe. Die beiden Mädchen lachen. Eine Alltagsszene in der neunten Klasse Herta-Lebenstein-Realschule in Stadtlohn.
Doch eigentlich ist Kseniia in Boryspil zuhause, eine 60.000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Kiew. Der russische Angriffskrieg hat das Leben der 16-Jährigen auf den Kopf gestellt. Im März floh sie mit ihrer Mutter Alena Medentseva (41) und ihrem Bruder Misha (9) vor den Bombardierungen nach Deutschland.

Das Schicksal teilt Kseniia mit 196.000 schulpflichtigen ukrainischen Kindern und Jugendlichen, die seit Kriegsausbruch nach Deutschland geflohen sind. 196.000 von ihnen wurden im Land Nordrhein-Westfalen aufgenommen. Weit über 50 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine fanden mit ihren Müttern in Stadtlohn Zuflucht. 21 ukrainische Grundschüler besuchen die Hilgenbergschule und die Fliednerschule, 31 die vier weiterführenden Schulen in Stadtlohn.
„Das ist eine echte Herausforderung für alle weiterführenden Schulen hier in Stadtlohn“, sagt Philipp Winhuysen, Schulsoziarbeiter an der Herta-Lebenstein-Realschule. In der jüngsten Sitzung des Schul- und Bildungsausschusses hat er über die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Schulalltag informiert.
Losbergschule ist Drehscheibe
„Wir sind insgesamt in Stadtlohn sehr gut aufgestellt“, sagt der Schulsozialarbeiter. Er erinnerte daran, dass nicht nur ukrainische Kinder in Stadtlohn beschult werden. „In den Vorbereitungsklassen der Losbergschule sind zurzeit 37 Schülerinnen und Schüler aus zwölf Ländern.
Die Losbergschule ist die Drehscheibe für die älteren Schülerinnen und Schüler. Von hier werden sie auf alle weiterführenden Schulen in Stadtlohn verteilt, die jeweils über mindestens eine Vorbereitungsklasse verfügen.
Kseniia ist Musterschülerin
In der Vorbereitungsklasse der Herta-Lebenstein-Realschule erlernen zurzeit 15 Schülerinnen und Schüler die deutsche Sprache. 13 von ihnen stammen aus der Ukraine. Dazu kommen ein Junge aus Afghanistan und ein Mädchen aus den Niederlanden.
Kseniia hat die Vorbereitungsklasse längst verlassen. Sie spricht schon fast perfekt Deutsch. „Mein Traum war es immer schon, in Deutschland zu studieren. Darum habe ich schon in der Ukraine Deutsch als zweite Fremdsprache gelernt“, sagt sie. Lehrerin Verena Kramer nennt sie eine Musterschülerin.

In ihren Lieblingsfächern Mathe und Englisch gehört Kseniia zu den Klassenbesten. In Physik und Geschichte fehlen ihr manchmal noch die richtigen Wörter. Aber die letzte Deutscharbeit hat sie mit einer Drei schon im Mittelfeld der Regelklasse abgeschlossen.
Die 16-Jährige strebt nun gleichzeitig zwei Schulabschlüsse an: den ukrainischen per Onlineunterricht und den deutschen im Präsenzunterricht. Lehrerin Verena Kramer hat keinen Zweifel: „Kseniia gehört aufs Gymnasium. Ich bin mir sicher, dass sie das Abitur gut schaffen wird.“
Schulsozialarbeiter hilft
So ehrgeizig sind aber nicht alle Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine. „Die Sprache ist das größte Problem“, sagt Verena Kramer. Viele der ukrainischen Schüler, die nicht hier bleiben möchte, konzentrieren sich auf den ukrainischen Online-Unterricht. „Die Mädchen nutzten noch eher als die Jungen die Chance, Deutsch als Fremdsprache zu lernen.“
Kseniia und ihr Bruder Misha suchen auch außerhalb der Schule Kontakt zu Stadtlohner Jugendlichen. Kseniia trainiert Leichtathletik im SuS, Misha spielt Handball. Schulsozialarbeiter Philipp Winhuysen hat die Kontakte hergestellt. Er lobt die „sehr gute Kooperation in Stadtlohn“ unter den Schulen, Einrichtungen und auch mit den Berufskollegs. Winhuysen: „Wir sind sehr gut aufgestellt.“
Schulen unter Druck
Einfach ist die Integration dennoch nicht. Für die Schulen nicht, und auch nicht für die Schülerinnen und Schüler. Stefan Wichmann, Leiter der Herta-Lebenstein-Realschule, sagt: „Zwei ehemalige Lehrer leisten hervorragende Unterstützung. Vier Lehrer unterrichten mit insgesamt 17 Stunden im DaZ-Unterricht.“ DaZ steht für Deutsch als Zweitsprache. Wichmann: „Das beansprucht unsere Ressourcen sehr. Wir stoßen an unsere Grenzen. Wir brauchen mehr Personal.“
Und auch die ukrainischen Schülerinnen und Schüler stehen unter Druck. „Ich vermisse Kiew und das Zusammensein der ganzen Familie“, sagt Kseniia. Ihr Vater ist in der Ukraine geblieben. Dort arbeitet er als Ingenieur. Der Online-Unterricht wird immer wieder mal unterbrochen. Weil die Lehrerin in den Luftschutzkeller muss. Oder weil nach Bombardierungen kein Strom da ist. Das erinnert die Kinder immer wieder daran, dass in ihrem Heimatland Krieg herrscht.
Vorfreude aufs Studium
Entspannen wird sich die Situation vorerst kaum. Ludger Wilmer, Leiter des Fachbereichs Soziales der Stadt Stadtlohn, erklärte in der jüngsten Sitzung des Sozialausschusses, dass Stadtlohn in den nächsten Monaten weitere 160 Geflüchtete aus der Ukraine und aus anderen Kriegsgebieten erwarte. „Und dass ist noch eher konservativ geschätzt“, so Ludger Wilmer.
Alena Medentseva, Kseniias Mutter, wünscht sich nichts mehr, als bald mit ihrem Sohn Misha wieder in eine friedliche Ukraine zu ihrem Mann zurückkehren zu können. Frieden in der Ukraine wünscht sich auch Kseniia sehnlich. Aber ihr Entschluss steht schon fest. Sie möchte in Deutschland bleiben und freut sich schon jetzt aufs Studium.
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