Was genau im Jahr 2019 in Stadtlohn geschah, warum ein 9 Monate altes Mädchen so schwere Verletzungen davontrug, dass es einige Monate später verstarb, das wird wohl ungeklärt bleiben. Vor dem Landgericht Münster ist nun der Prozess gegen die Mutter zu Ende gegangen. Das Urteil: Freispruch.
Die Vorwürfe wogen schwer. Es stand im Raum, dass die Mutter ihr Kind so schwer geschüttelt haben könnte, dass es ein Schütteltrauma erlitten hat. Doch vor Gericht stellte sich die Sachlage sehr viel komplexer dar.
Die Mutter schilderte den Tag dem Gericht in allen Einzelheiten. Nachmittags sei sie noch einkaufen gewesen, das Kind blieb bei der Großmutter. Als sie nach Hause kam, habe sie noch etwas im Haushalt gemacht und mit den Kindern gespielt. Als sie sich dann für einen Termin am Abend zurecht machen wollte, habe sie die neun Monate alte Tochter auf das Elternbett gelegt. Zu dem Zeitpunkt habe sich das Mädchen - eigentlich - noch nicht selbstständig drehen können.
Doch als sich die Mutter zum Spiegel umdrehte, sei das Kind aus dem Bett gefallen. Sofort sei ihr aufgefallen, dass etwas nicht stimmte, so die Mutter. Sie wählte den Notruf, führte unter telefonischer Anleitung eine Laienreanimation durch.
Viele Zweifel
Mit dem Rettungswagen ging es zunächst ins Krankenhaus nach Bocholt, später nach Duisburg. Es folgte ein monatelanger Leidensweg, das Kind wurde mehrfach operiert. Die Eltern setzten sich dafür ein, dass das Mädchen nach Hause kommen konnte und dort gepflegt wurde. Wenige Monate später starb es an den Folgen der Verletzungen.
Das Gutachten eines Rechtsmediziners kam zu dem Schluss, dass die Verletzungen durch ein Schütteltrauma ausgelöst worden sind. Doch es gab auch Zweifel. Denn der Arzt aus Bocholt sagte aus, dass die Verletzungen, die er gesehen habe, zu einem Bettsturz passen und eben nicht zu einem Schütteltrauma.
Auch die Möglichkeit, dass das Mädchen unter einer angeborenen Blutgerinnungsstörung gelitten haben könnte, stand im Raum. Zudem gab auch der Rechtsmediziner an, dass die Symptome für ein Schütteltrauma - sollte es wirklich zu einer solchen Tat gekommen sein - auch erst mehrere Stunden nach dem Schütteln auftreten können. Dass allein die Mutter für die Verletzungen verantwortlich sein könnte, konnte also nicht nachgewiesen werden.
„Ich stehe hier mit leeren Händen“, erklärte der Staatsanwalt in seinem Plädoyer. „Sie haben die Tat bestritten, es ist meine Aufgabe dies zu widerlegen.“ Letztendlich ließe sich die Verantwortlichkeit - „falls es denn eine gibt“ - nicht rekonstruieren.
So sah es auch das Schwurgericht. Trotz einiger Zweifel seien die Aussagen der Mutter weitestgehend „authentisch“ gewesen. Im Rahmen der Möglichkeiten vor Gericht habe man versucht, die Mutter kennenzulernen. „Wir können uns bei Ihnen nur sehr schwer vorstellen, dass Sie ein Kind misshandeln könnten“, so die Vorsitzende Richterin.
Ein Psychologe habe der Mutter bescheinigt, dass sie „psychisch stabil und belastbar“ sei. Auch die psychiatrische Gutachterin vor Gericht kam zu dem Schluss, dass bei der Frau keinerlei seelische Störung oder ähnliches vorliegt.
Stabile Familienverhältnisse
Die Rechtsanwältin der Mutter fasste es so zusammen: „Auch wenn man ein Augenblicksversagen annehmen würde, würde das voraussetzen, dass es einen Augenblick gegeben hat, in dem man versagen konnte. Und hier gibt es keinen Hinweis darauf.“
Wer den Prozess beoachtet hat, gewann den Eindruck, dass in der Familie sehr stabile Verhältnisse vorherrschen. Zum zweiten und dritten Prozesstag hatten sich viele Familienmitglieder und Freunde im Gerichtssaal versammelt. Auch das Jugendamt hielt nach den Ereignissen ein Auge auf die Familie. „Wir haben immer alles getan, was das Jugendamt verlangt hat“, so der Kindsvater. Auch von dieser Seite habe es keine weiteren Bedenken gegeben, dass die Mutter mit den Kindern der Familie gut umgehe.