Maher Murat (19) hilft gerne ehrenamtlich beim Aufbau des Flüchtlingszentrums in Stadtlohn. Der Maurer-Azubi musste 2014 mit Eltern und neun Geschwistern vor dem Terror des sogenannten Islamischen Staates (IS) fliehen.

© Stefan Grothues

Maher Murat mauert für die Integration: „Wir wollen etwas zurückgeben“

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Jesidische Familien haben 2015 in Stadtlohn ein Zuhause gefunden. Jetzt helfen sie beim Bau des Flüchtlingszentrums. Maher Murat sagt: Wer Krieg erlebt hat, weiß, was die Ukrainer erleiden.

Stadtlohn

, 14.04.2022, 17:30 Uhr / Lesedauer: 3 min

Maher Murat (19) ist voller Tatendrang. Gerade kommt der Stadtlohner Maurer-Azubi von der Arbeit, da steht er schon wieder ehrenamtlich auf einer Baustelle. An diesem Mittwochabend vor Ostern hat er sich zwei Stunden freigeschaufelt, um Wände zu verputzen und Schlitze zuzumauern. Danach muss er zum Fußballtraining bei der DJK.

Mit seinen Brüdern und Cousins hat er schon viele ehrenamtliche Stunden in die Renovierung der ehemaligen Geschäftsräume im Haus Deitmer an der Eschstraße gesteckt. Hier entsteht ein neues Heimat- und Flüchtlingszentrum. Die Murats haben die Arbeitsstunden nicht gezählt. Ehrensache. „Wir wollen gerne etwas zurückgeben“, sagt Maher Murat.

Sahir Murad, Qasim Kheder, Khalaf Murad und Maher Murad (v.l.) kamen selbst vor sechs Jahren als Flüchtlinge nach Stadtlohn. Die Jesiden aus dem Irak unterstützen nun ihrerseits die Flüchtlingshilfe in der Stadt. Aktuell haben sie beispielsweise dabei geholfen, die neuen Räume herzurichten. © privat

Sahir Murat, Qasim Kheder, Khalaf Murat und Maher Murat (v.l.) kamen 2015 als Flüchtlinge nach Stadtlohn. Die Jesiden aus dem Irak unterstützen nun ihrerseits die Flüchtlingshilfe in der Stadt. © privat

Die jesidische Familie hat ihre eigene Heimat im Irak verloren. Maher Murat hat schöne Erinnerungen an seine Heimatstadt Sindschar, die die Jesiden Shingal nennen. „Es war ein einfaches Leben dort“, sagt er. „Shingal war wie eine große Familie. Es lebten nur Jesiden dort.“

Nächtliche Flucht in die Berge

Bis zum 3. August 2014. Dieses Datum vergisst Maher Murat nie. Das war der Tag, an dem der damals Elfjährige seine unbeschwerte Kindheit verlor. Das war der Tag, an dem der sogenannte Islamische Staat (IS) den Völkermord an den Jesiden begann. Systematisch ermordeten die IS-Kämpfer jesidische Männer, vergewaltigten, verschleppten und versklavten die Frauen und Kinder.

„Wir sind nachts geweckt worden. Nur eine halbe Stunde später sind wir geflohen“, sagt Maher Murat. Die zehnköpfige Familie Murat versteckte sich im unwegsamen Sindschar-Gebirge. „Es war Sommer. Die Sonne brannte. Wir hatten eine Woche lang nichts zu essen und kaum etwas zu trinken.“

An der Eschstraße entsteht das neue Heimat- und Flüchtlingszentrum.

An der Eschstraße entsteht das neue Heimat- und Flüchtlingszentrum. © Stefan Grothues

Dann gelang die Flucht nach Syrien, übers Mittelmeer nach Deutschland. Maher Murat winkt ab. Mehr möchte er gar nicht erzählen. Die Erinnerung schmerzt noch immer. So wie die vielen Fernsehbilder, die jetzt aus dem Ukraine-Krieg zu sehen sind. Maher Murat sagt: „Glaubt nicht den Fernsehbildern. Sie zeigen nur einen kleinen Ausschnitt vom Krieg. In Wirklichkeit ist es viel, viel schlimmer. Das kann nur jemand verstehen, der das mitgemacht hat.“

„Wir sind alle Handwerker“

In Stadtlohn hat die Familie 2015 ein neues Zuhause gefunden. Und sie hat sich gut integriert, in der Schule, im Sportverein oder in der Ausbildung. Maher Murat hat Freude an seinem Beruf. „Mein Vater war Handwerker. Wir sind alle Handwerker“ sagt er lachend. „Wir fühlen uns in Stadtlohn wohl.“ Die Heimat ist es aber nicht. „Die haben wir verloren.“

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Genau darum geht es auch in dem neuen Heimat- und Flüchtlingszentrum an der Eschstraße. Um Krieg und Flucht, ums Ankommen und um Integration. Das Zentrum soll ein Ort der Begegnung sein: Sprachkurse, Eltern-Kind-Frühstück, Kreativkurse, internationales Café. „Angedacht ist auch noch eine Ausstellungsreihe ‚Heimat. Stadtlohn‘“, sagt Mathias Redders, einer der Initiatoren.

Breite Unterstützung in Stadtlohn für das Flüchtlingsprojekt

Begonnen wird mit einer Fotoausstellung zur Zerstörung Stadtlohns 1945 und dem Wiederaufbau bis 1960. Im nächsten Jahr stehen die Schlacht im Lohner Bruch und der Westfälische Frieden im Mittelpunkt. Die Schlacht jährt sich 2023 zum 400. Mal. In den Vitrinen des Zentrums sollen außerdem Gegenstände, die mit der Geschichte Stadtlohns verbunden sind, ausgestellt werden. Themen hier: Textilgeschichte, Töpferei, Landwirtschaft, alte Küchengeräte altes Wohninventar.

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Als die Murats von dem Projekt hörten, zögerten sie nicht lange: „Wir sind zu Herrn Redders gegangen und haben gefragt: ,Was können wir tun? Wie können wir helfen?‘.“ Mathias Redders ist ganz davon angetan: „Der jesidische Bautrupp leistet hervorragende Arbeit.“ Aber die Unterstützung ist noch breiter. Redders: „Ich bin schier begeistert von den Stadtlohner Handwerkern, die sich die Klinke in die Hand gegeben haben und allenfalls um eine Spendenquittung für das Material gebeten haben.“

75 ukrainische Kriegsflüchtlinge in Stadtohn

Die Arbeit wird den Flüchtlingsbetreuern und Integrationshelfern nicht ausgehen. Stadtlohn hat in den letzten Wochen bereits 75 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, erklärte Sozialamtsleiter Ludger Wilmer am Mittwoch auf Anfrage unserer Redaktion. „Heute ist noch eine zehnköpfige Familie in Stadtlohn angekommen. Es handelt sich um Ortskräfte aus Afghanistan.“ Am Gründonnerstag erwartetet Wilmer 8 weitere ukrainische Kriegsflüchtlinge, in der Woche nach Ostern weitere 13.

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Ludger Wilmer ist froh, dass bislang alle ukrainischen Kriegsflüchtlinge privat untergebracht werden konnten. „Das fördert die Integration ganz erheblich.“ Über 40 Plätze in Privatwohnungen sind noch in Reserve. In städtischen Unterkünften könnten weitere 50 freie Plätze genutzt werden. „Container sind für uns noch kein Thema“, sagt der Sozialamtsleiter.

Bunte Eier zum Neujahrsfest

Maher Murat schaut auf die Uhr. „Tut mir leid, ich habe keine Zeit mehr zu reden. Vor dem Fußballtraining muss ich hier noch was fertig machen“, sagt er. Kurz nach Ostern sollen schließlich die ersten Veranstaltungen im neuen Heimat- und Flüchtlingszentrum stattfinden.

In dem ehemaligen Geschäftslokal an der Eschstraße gibt es jede Menge Arbeit. Kurz nach Ostern sollen erste Teilbereich des Heimat- und Flüchtlingszentrums eröffnet werden.

In dem ehemaligen Geschäftslokal an der Eschstraße gibt es jede Menge Arbeit. Kurz nach Ostern sollen erste Teilbereiche des Heimat- und Flüchtlingszentrums eröffnet werden. © privat

Übrigens: Wenn es in den jesidischen Familien jetzt bunte Eier gibt, dann hat das nichts mit Ostern zu tun. Die Murats freuen sich auf ein anderes Fest. Am kommenden Mittwoch (21. April) feiern sie Sersal, das jesidische Neujahrsfest. Die Jesiden schmücken an diesem Tag ihre Hauseingänge mit Blumenschmuck und färben Hühnereier. Der Festlegende zufolge hat an diesem Tag Gott dem Engel Melek Taus den Auftrag gegeben, die Erde zu erschaffen und für alle Lebewesen bewohnbar zu machen. Von Krieg und Flucht war nicht die Rede.