„Der Ton wird rauer.“ Simone Schule Beikel und Christoph Dölle sind sehr erfahrene Einsatzkräfte, als Feuerwehrfrau bei der Freiwilligen Feuerwehr Legden und als Notfallsanitäter auf der Rettungswache in Stadtlohn. Sie haben über Jahrzehnte einen Blick fürs Ganze gewonnen, unisono erkennen auch sie eine Entwicklung an den Einsatzorten, die offensichtlich ist.
Die Legdenerin und der Stadtlohner sind zwei von vier Gesichtern, die den Kreis Borken als haupt- und ehrenamtliche Einsatzkräfte in der Ausstellung „Der Mensch dahinter“ präsentieren. Als Teil der „Initiative für Respekt und Toleranz“, die vor dem Hintergrund der bundesweit zunehmenden Übergriffe auf Beschäftigte der Feuerwehr, Polizei, des Rettungsdienstes und anderer in der Öffentlichkeit stehenden Berufsgruppen die Personen „hinter der Uniform“ in den Fokus rückt. Um für einen respektvollen Umgang, Toleranz und Zivilcourage zu werben.
Krawallnacht von Stuttgart als Anlass
Nein: So weit ist es im ländlichen Bereich noch nicht gekommen. Christoph Dölle erinnert an die Silvestervorkommnisse in Berlin, als Einsatzkräfte gezielt angegriffen und bei ihren Einsätzen behindert wurden. Die sogenannte „Krawallnacht“ in Stuttgart im Juni 2020, als mehrere hundert Personen in der Innenstadt randalierten und Polizei- sowie Rettungskräfte angriffen, war es letztlich auch, die den Anlass für diese Kampagne darstellte. Dennoch ist es dem 61-Jährigen wichtig, Teil dieser Initiative zu sein.

In den über 40 Jahren seiner Tätigkeit sei auch er „ein, zwei Mal bespuckt oder leicht angerempelt“ worden – dies wohlgemerkt von Betrunkenen. Er spürt aber schon, dass viele Menschen „immer egoistischer“ werden, der Ton eben rauer werde. Der Notfallsanitäter berichtet von einem Kollegen, der von einem Hausbewohner forsch darauf hingewiesen worden sei, dass der Rettungswagen doch seine Einfahrt blockiere. „Da hat sich dieser ans Steuer gesetzt und den RTW selbst weggefahren“, so der Stadtlohner.
Simone Schulze Beikel macht ähnliche Erfahrungen. Sie spannt den Bogen weiter, denkt auch an viele Einsätze, die vermeidbar sind, wo Rettungskräfte für eigentliche Lappalien bemüht werden: „Die Schere geht auseinander, die Notfallkompetenz lässt spürbar nach.“ Wohl auch ein zunehmendes gesellschaftliches Defizit, das auch Christoph Dölle im täglichen Einsatz wahrnimmt.
Er erinnert sich an einen Fall, bei dem ein Kollege einen Mann darauf angesprochen habe, dass dieser in dem Fall auch selbst das Krankenhaus hätte aufsuchen können: Dann komme er dort aber nicht so schnell an die Reihe, sei die Antwort gewesen. „Rettungsmittel sind endlich“, betont der Stadtlohner. Und durch solche Einsätze gingen bei echten Notfällen wichtige Minuten womöglich verloren.
Simone Schulze Beikel stellt eine weitere Entwicklung fest: „Die Hemmschwelle bei den Passanten nimmt ab.“ Stichwort Smartphone und Soziale Medien. Auf den Punkt gebracht: „Unsere Kameraden schneiden eine Person aus dem Auto und werden dabei gefilmt. Unglaublich.“ „Filmen wird zum Spaß“, ergänzt Christoph Dölle. Viele der Einsätze seien auch so schon belastend, da nehme man immer etwas mit nach Hause. Er selbst habe in jungen Jahren erlebt, wie ein Mädchen bei einem Verkehrsunfall verstorben ist. Die Bilder vergesse er nicht.

Für die Legdenerin ist es wichtig zu betonen, dass sie und ihre drei Kollegen stellvertretend für alle Einsatzkräfte im Kreis Borken stehen, „die diesen Job machen“. Viele eben auch ehrenamtlich, vor allem bei den Feuerwehren. Bei diesen ist der Anteil der Hauptamtlichen geringer als zehn Prozent. Und wenn sich diese Ehrenamtlichen uneigennützig in den Dienst der Gesellschaft stellten, „dann müssen sie sich dafür nicht noch beschimpfen lassen“.
Ganz wichtig und Kern der Initiative: „Hinter jeder Einsatzkraft steht ein Mensch“, erklärt Christoph Dölle. Vielfach Väter und Mütter, ergänzt Simone Schulze Beikel. Die 45-Jährige weiß, dass man dann noch sensibler und empfindlicher wird. Zu ihren persönlichen Erfahrungen und zu Eindrücken aus ihrem Alltagsleben sind beide auch im Zuge der Kampagne befragt worden. „Ich sogar als erste Feuerwehrfrau überhaupt“, berichtet die Legdenerin und lacht.
Polizei und THW weitere Säulen
Dass der Kreis Borken sich an dieser Initiative beteiligt und die Ausstellung in die Kreisstadt holt, ist dem Landrat Dr. Kai Zwicker ein besonderes Anliegen: „Um Dank und Anerkennung zu zeigen. Gleichzeitig verurteilen wir Anfeindungen, Gewalt und Respektlosigkeit.“ Den Kreis Borken vertreten neben Christoph Dölle und Simone Schulze Beikel auch Karsten Kebbedies (Technisches Hilfswerk Gronau) als Vertreter des Katastrophenschutzes und Lea Thien (Kreispolizeibehörde Borken) als Vertreterin der Polizei. Alle vier bilden repräsentativ das große Spektrum der Einsatzbereiche im Westmünsterland ab.
Christoph Dölle und Simone Schulze Beikel gehen mit ihren beiden Kollegen nun „auf Reise“, werden vielleicht auch mal in Hamburg oder Berlin zu sehen sein. An Orten, an denen Gewalt und Respektlosigkeit gegenüber Einsatzkräften mittlerweile fast zum Alltag zählen. Für den Stadtlohner und die Legdenerin geht es dann auch vor allem um eines: sich solidarisch mit den Kolleginnen und Kollegen zu zeigen, die sich solchen Situationen ausgesetzt fühlen. Situationen, die im ländlichen Bereich noch die Ausnahme darstellen.
Ausstellung im Kreishaus
- „Der Mensch dahinter“ ist das erste Projekt der „Initiative für Respekt und Toleranz“, die Charlotte Beck, Burkard Knöpker, Dr. Dirk Reinhardt und Andra Wommelsdorf ins Leben riefen. Eine Besonderheit der Initiative ist, dass sie nicht von staatlicher Seite angestoßen wurde, sondern aus der Bürgerschaft entstanden ist.
- Interessierte können sich die Wanderausstellung „Der Mensch dahinter“ vom 7. Juni ab 15.30 Uhr bis zum 30. Juni 2024 zu den regulären Öffnungszeiten des Kreishauses in Borken, Burloer Straße 93, von montags bis donnerstags von 8.30 bis 16 Uhr und freitags von 8.30 bis 12.30 Uhr ansehen. Der Eintritt ist frei.
- In dieser Zeit sind dort 40 große Porträt-Fotos von verschiedenen uniformierten Frauen und Männern aller Altersgruppen aus ganz Deutschland ausgestellt. Direkt neben „ihren“ Bildern geben die Haupt- und Ehrenamtlichen auf Texttafeln Einblicke in ihre Tätigkeiten und ihren Dienstalltag, berichten über besondere Erlebnisse im Einsatz und die Motivation für ihr berufliches oder ehrenamtliches Engagement.