
© Christin Lesker
Auf der Suche nach Antworten fuhr Christin Lesker mit dem Rad von Stadtlohn nach Auschwitz
Konzentrationlager Auschwitz
Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz jährt sich am 27. Januar 2020 zum 75. Mal. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir eine Reportage über eine ganz besondere Reise nach Auschwitz.
„Auschwitz, das ist aber ein trauriges Urlaubsziel“, sagte eine Freundin, als ich erzählte, dass ich mit dem Fahrrad nach Auschwitz fahren will. „Fahr doch lieber nach Kopenhagen, da ist es schöner.“ Das stimmt sicher, aber es sollte ja auch kein Urlaub werden. Ich wollte Antworten finden.
Auf einer mehrwöchigen Reise durch Vietnam hatte ich zum ersten Mal wahrgenommen, wie wir in zwei Klassen denken. Auf der einen Seite die Touristen, die das Armut-Sensationsprogramm erwarten und auf der anderen Seite die Einheimischen, in deren Alltag Touristen ungefragt mit der Kamera eindringen. Ich frage mich, wieso wir unsere Grundwerte so schnell über den Haufen werfen, von oben herab auf andere blicken und persönliche Grenzen überschreiten.
Diese Gedanken nehme ich mit zurück nach Deutschland. Wieder zu Hause lese ich Bücher über die Konflikte in Syrien, über tibetische Flüchtlingskinder, die vor der chinesischen Besetzung über den Himalaya fliehen, und schaue Zeitzeugen-Interviews mit Holocaust-Überlebenden.
Das Wegschauen einer ganzen Nation
Der Mord an mehr als sechs Millionen Juden ist das größte Beispiel, das mir für das Wegschauen einer ganzen Nation einfällt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es so weit kommen konnte, und möchte verstehen, warum damals nur wenige etwas unternommen haben, obwohl viele wussten, was passiert. In der Schule hätte ich mir einen Besuch in einem Konzentrationslager gewünscht. Ich habe den Unterricht immer sehr theoretisch erlebt und fand es schwer, einen tieferen emotionalen Zugang zu finden.
So kommt mir die Idee, nach Auschwitz zu fahren. Mit dem Fahrrad bin ich nicht gleich da, sondern nähere mich langsam an, habe Zeit für meine Gedanken und für Gespräche. Ich möchte bei Menschen übernachten, die in den Städten leben, die ich durchfahre, und so verschiedene Sichtweisen und Erfahrungen kennenlernen.

Christin Lesker radelte im Herbst von Stadtlohn nach Auschwitz. Auf dem Weg hatte Sie Zeit für Gespräche mit vielen Menschen. © www.cos.sk
Zwischen der Idee und dem Reisestart liegt ein knapper Monat. Ich besorge mir Fahrradtaschen und überlege eine Route. Und ich merke, dass jeder, dem ich davon erzähle, eine Meinung zu Auschwitz hat. Neben dem Unverständnis, dass ich als Mädchen, alleine, im Herbst, mit dem Fahrrad los will, erfahre ich vor allem Begeisterung und sogar Bewunderung. Meine Großtante findet schön, dass sich junge Menschen über den Schulunterricht hinaus dem Thema nähern.
Besuch in Auschwitz hat verändert
Ein Kumpel überlegt sogar mit ein paar Freunden mit dem Zug nachzukommen. Er war damals mit der Schule in Auschwitz. Das habe ihn verändert, denn erst dort hat er eine Vorstellung davon bekommen, was der Holocaust bedeutet und deshalb wünscht er sich, dass mehr seiner Freunde diesen Ort besuchen würden.
Am 2. Oktober fahre ich los. Von Stadtlohn bis nach Auschwitz sind es fast 1200 Kilometer. Ich bin sehr aufgeregt, doch diese Aufregung in mir ist gemischt. Ich freue mich auf die Gespräche und die Menschen, die ich treffen werde, aber jetzt denke ich auch zum ersten Mal daran, wie emotional dieses Ziel ist, und dass es alleine nicht einfach wird.
Die Aufregung sinkt mit jedem Kilometer
Doch die Aufregung sinkt mit jedem Kilometer und die ersten Tage meiner Reise verlaufen flüssig. Die Sonne scheint, ich fühle mich lebendig durch die Bewegung. Und das Freiheitsgefühl, das ich seit meiner letzten langen Reise vermisst habe, ist zurück. Ich schlafe meist in Studenten-WGs und anders als erwartet reden wir nicht viel über den Holocaust, sondern über Trinkgeschichten und Gossip.
Schlagartig ändert sich das, als ich weiter Richtung Osten fahre. In der Nähe von Sangerhausen übernachte ich bei einer Rentnerin. Sie ist im Ortschaftsrat und engagiert sich für die Integration der Geflüchteten in ihrem Ort.
Sie berichtet von Gesprächen mit ihren Nachbarn, die Angst vor „all den Flüchtlingen“ haben oder ihr vorwerfen, in ihrem geplanten Waldkindergartenprojekt wolle sie „Schwule und Lesben heranziehen“.
Angst vor „all den Flüchtlingen“ in einem Dorf mit zwei geflüchteten Familien
Das alles in einem sehr friedlichen Dorf in dem gerade einmal zwei geflüchtete Familien leben. In den Dörfern, durch die ich fahre, hängen auffällig viele AfD-Wahlplakate, manchmal ausschließlich. Plakate mit Sprüchen gegen den Islam, gegen kulturelle Vielfalt. Das finde ich beängstigend, denn in meiner Heimat sieht man solche Statements nicht in diesen Massen.

Ihr Gastgeber nahm Christin Lesker und ein Mädchen aus der Ukraine mit auf eine nächtliche Radtour durch Breslau und zeigte den beiden die schönsten Ecken der Stadt bei Nacht. © privat
Am Anfang der Reise habe ich während der Fahrt Lieder gesummt oder das Alphabet rückwärts aufgesagt, um mich zu beschäftigen. Das ist vorbei. In meinem Kopf ist kein Platz mehr für Liedchen. Er ist voll mit den Gesprächen, die ich bis jetzt mit meinen Gastgebern geführt habe und mit meinen eigenen Erfahrungen mit Ausgrenzungen gegen Homosexuelle oder Migranten in meinem Familien- und Bekanntenkreis. Ich denke an rassistische Bezeichnungen, wie „Lakritzfüße“ oder „Molukken“, die ich daheim öfter mal höre. Einmal habe ich sogar aufgeschnappt, wie jemand „Ausländer kloppen gehen“ wollte.
Abscheuliche rassistische Kommentare nicht mehr so stehen lassen
Manchmal fallen solche Äußerungen aus Spaß, manchmal aus vollem Ernst und mit Hass im Unterton. Doch unabhängig von der Absicht, die dahinter steckt, war mir immer klar, wie abscheulich ich solche rassistischen Kommentare finde. Deshalb frage ich mich, warum ich so selten etwas dagegen gesagt habe. Mir über die Taten anderer Gedanken zu machen, ist die eine Sache, aber nun verstehe ich, dass auch ich durch mein Schweigen schon versagt habe. Ich nehme mir vor, in solchen Situationen in Zukunft etwas zu sagen.
Auf dem Weg von Dresden nach Görlitz erreichen mich unerwartet Nachrichten von Freunden und Bekannten. Meine Reise habe eine neue Bedeutung bekommen. Zunächst verstehe ich nicht, bis ich von dem Anschlag auf die Synagoge in Halle lese. Ich denke daran, wie ich vor ein paar Tagen durch Halle gefahren bin. Plötzlich fühle ich mich dem Ganzen ganz nah. Bis zu dieser Nachricht habe ich geglaubt Antisemitismus sei kein großes Thema mehr. Ich dachte, das hätten wir hinter uns gelassen. Diese Aktualität gibt mir auf eine ungute Weise das Gefühl, mit meiner Reise genau das Richtige zu machen.

Aus den spontanen Übernachtungen bei fremden Gastgebern entwickeln sich Gespräche und Begegnungen. Bei ihrem Gastgeber in Breslau lernte Christin Lesker von einer ukrainischen Studentin ein ukrainisches Nationalgericht zu kochen. © privat
Abends übernachte ich bei zwei Studentinnen in Görlitz, und als wir essen gehen, bestimmt das Attentat natürlich das Gespräch. Ich will wissen, wie sie den Osten wahrnehmen, der in den Medien oft sehr rechts dargestellt wird. Eine der beiden zählt die Tage, bis sie Görlitz verlassen kann. Sie möchte nicht durch Straßen gehen, die mit AfD-Plakaten zugekleistert sind. Sie will beim Stadtbummel keine blauen Rosen zugesteckt bekommen oder hören, wie man sich über die Polen auf dem Markt beschwert.
Einwohnerin von Görlitz: Wenn alle gehen, wird sich nichts ändern
Die andere Studentin hingegen will gerade jetzt nicht verschwinden, sondern zeigen, dass sie nicht einverstanden ist mit so einem Verhalten. Aus Prinzip und weil sie gerne hier lebt. Viele Menschen in Görlitz seien alt, seien unzufrieden, fühlten sich nicht verstanden und mit ihren Problemen im Stich gelassen. Das sei die Grundlage für den Zulauf zu rechtsgesinnten Parteien. Wenn aber alle gehen, wenn es ungemütlich wird, sagt sie, dann werde sich daran nichts ändern. Die Unzufriedenheit und die Probleme würden wachsen. Deshalb bleibt sie und sucht den Dialog.
Wie sehr dieses Thema die Menschen hier begleitet und beschäftigt, wird mir an meinem zweiten Abend in Görlitz klar. Mein Gastgeber ist Lehrer und er nimmt mich mit auf den Klassenausflug zum Halbfinale der sächsischen Poetry-Slam-Meisterschaften. Viele der Texte, die hier vorgetragen werden, drehen sich um unsere nationalsozialistische Vergangenheit, um Rassismus im Alltag und um Menschen, die für Freiheit, Gleichheit und Frieden einstehen.
Beeindruckener Poetry-Slam-Text
Am meisten getroffen hat mich ein Text von Jessy James LaFleur. Sie beschreibt, wie unser Countdown läuft. Die gesellschaftlich-politischen Probleme charakterisiert sie als Zündschnur, die für alle sichtbar ist, die immer kürzer wird und doch sehen wir lieber tatenlos zu, anstatt etwas zu unternehmen. Wie wir blind weiterleben, statt aufzustehen, für uns und unsere Mitmenschen.

Mit dem Fahrrad legte Christin Lesker 1200 Kilometer zurück – von Stadtlohn nach Auschwitz. © Christin Lesker
Ermutigt von den Menschen, die dem Rechtsruck etwas entgegensetzen, fahre ich am nächsten Tag über die polnische Grenze. Doch meine Euphorie nimmt schnell ab. Ausgerechnet für meine erste Nacht in Polen finde ich keinen Gastgeber. Ich bin niedergeschlagen, fühle mich in meinem Wirrwarr an Gedanken ganz alleine und merke erst jetzt, dass die Gespräche ein essenzieller Teil meiner Reise sind. Egal, wie viel ich auf dem Rad nachgedacht habe, abends konnte ich mit meinem Gastgeber darüber reden, meine Fragen mit jemand anderem diskutieren und von meinen Emotionen erzählen. Das fehlt mir heute. Ich fühle mich einsam.
In meinem nächsten Ziel Breslau besuche ich die Synagoge „Zum weißen Storch“. Ich laufe durch die Ausstellung über ihre Geschichte. Immer wieder schießen mir Tränen in die Augen, wenn ich die Fotos anschaue und die Tafeln lese. Die Breslauer Juden wurden erniedrigt, enteignet, deportiert und ermordet. Die Synagoge wurde der Gemeinde nicht nur genommen. Die SS hat hier alles gelagert, was sie den Menschen genommen hat.

Christin Lesker besuchte die Synagoge in Breslau. © Christin Lesker
Vor der Deportation in verschiedene Konzentrationslager wurden die Juden im Innenhof der Synagoge zusammengetrieben. Die in Breslau lebenden Juden waren damals die drittgrößte Glaubensgemeinschaft Deutschlands. Einige wenige konnten auswandern, aber die meisten von ihnen fanden im KZ den Tod.
Nach diesem Besuch sitze ich auf dem Breslauer Marktplatz. Alles um mich herum regt sich, nur ich starre in die Menge, bin leer, traurig und merke zum ersten Mal bis ins Mark die Emotionen, die diese Reise in mir auslöst. Mit Unbehagen denke ich an den bald bevorstehenden Tag in Auschwitz. Wenn die Geschichte der Synagoge mich schon so hart trifft, wie wird es dann erst im KZ?
Ich muss reden, also rufe ich Papa an. Das tue ich normalerweise nie, deshalb ist er sofort dran und nimmt sich Zeit. Schluchzend erzähle ich von meinem Tag. Er ist ein guter Zuhörer und meint, es sei okay, wenn ich nicht bis nach Auschwitz komme, denn ich hätte es versucht und er verstehe, wenn das alleine zu emotionalsei. Mir wird klar, dass ich gar nicht alleine bin. Das tut gut.

Ihre Pausen nutze Christin Lesker, um ihre Erlebnisse und Eindrücke aufzuschreiben. © privat
Ein paar Tage später, in Opole, übernachte ich zum ersten Mal bei einer polnischen Familie. Was den Zweiten Weltkrieg angeht, so sieht diese Familie Polen klar in der Opfer-Rolle. Man hat die Grenzen des Landes in der Geschichte willkürlich oft verschoben und hat Dörfer zerstört, um aus den Trümmern Konzentrationslager zu errichten. Beinahe die Hälfte der im Holocaust ermordeten Juden kam aus Polen.
Polnische Familie entdeckte, wie eng ihre Geschichte mit dem Lager verknüpft ist
Dass die Schuldfrage des Holocausts überhaupt nicht leicht zu beantworten ist, merkten sie vor ein paar Jahren. Bei einem Besuch in Auschwitz entdeckten sie den Nachnamen der Frau, eingestickt in eine Häftlingsuniform. Den Nachnamen des Mannes hingegen lasen sie auf einer Liste der Aufseher im Lager. Der Besuch in Auschwitz habe ihnen gezeigt, wie eng ihre Geschichte mit dem Lager verknüpft ist. Außerdem sei ihnen klar geworden, dass man nicht sagen kann, auf welcher Seite man in einer solchen Situation stehen würde.
Es hilft ihnen, die Vergangenheit mit anderen Augen zu sehen, denn so gerne man sich auch vergewissern würde, dass man im Falle eines solchen Verbrechens auf der „richtigen“ Seite steht, ist es manchmal das politische System, das uns einen Schubs in eine Richtung gibt, sagen sie. Einen Schubs auf einen Weg, den man nicht für richtig hält, den man aber trotzdem einschlägt, weil es der bequemste ist. Mit jedem Schritt auf diesem Weg sinke die Hemmung, Dinge zu tun, die man für unmöglich gehalten hatte. Und je länger man diesen Weg geht, desto schwerer werde es umzukehren.
Dialog nicht abzubrechen und nicht wegschauen
„Niemand wird als Massenmörder geboren“, sagt mein Gastgeber, bevor ich weiterfahre. Und deshalb sei es wichtig, den Dialog nicht abzubrechen, nicht wegzuschauen und rechten Äußerungen mit Zivilcourage zu begegnen. Ich bin froh, so kurz vor meinem Besuch in Auschwitz, diesen Blickwinkel auf den Holocaust zu hören.

Christin Lesker besichtigte das Konzentrationslager Auschwitz. Was sie dort hörte und sah, wird sie noch lange beschäftigen. © privat
Und dann ist er da: Der Tag, an dem ich Auschwitz besuche. Fast drei Wochen, 13 Städte und über 40 Begegnungen mit Menschen liegen hinter mir. Ich mache mich auf den Weg zum Stammlager, wo die Führung beginnt. Mir geht vieles durch den Kopf. Seit gestern ist mir klar, dass ich mit Auschwitz nicht nur mein Ziel, sondern auch das Ende dieser Reise erreiche.
Irgendwie bin ich erleichtert, denn diese Reise hat viel Kraft gefordert. Andererseits bin ich traurig, dass sie bald vorbei ist. Die vergangenen Wochen haben mich herausgefordert und verändert. Ich bin dankbar, dass mich so viele fremde Menschen in ihr Leben gelassen haben, dass sie ihre Gedanken und Erfahrungen mit mir geteilt und mir so neue Sichtweisen eröffnet haben.
Lagerkomplex ist viel größer als gedacht
Der Lagerkomplex ist viel größer, als ich dachte, und er ist voll mit Touristen. Ich bin eine von vielen und das fühlt sich komisch an. Denn warum auch immer habe ich mir vorgestellt, hier ganz privat durchgeführt zu werden. Aber ich freue mich zu sehen, dass so viele Menschen verstehen und sehen wollen, wie der Ort aussieht, an dem Nazi-Deutschland mehr als eine Million Menschen ermordet hat.
Das Stammlager ist der Teil, in dem kaum Juden, sondern hauptsächlich politische und Kriegsgefangene und Polen zum Arbeiten gefangen gehalten wurden.
Die Frau, die uns durchs Lager führt, schildert mit einer bedrückend-ruhigen Stimme den Lageralltag: das langsame Sterben, das Zugrunderichten der Menschen, physisch und psychisch. Sie liest Zeitzeugenberichte vor und erzählt unter anderem, wie ein 14-Jähriger, eigentlich noch ein Kind, vor den Augen hunderter Häftlinge gehängt wird, wie er noch lange zappelt, weil er zu leicht ist, um von der Schlinge um den Hals direkt zu ersticken. Mir tropfen die Tränen von den Wangen. Ich kann diese Brutalität nicht fassen. Jeder Mensch war nur eine Nummer im Tötungsprozess.
In einer Pause schaue ich mir die israelische Ausstellung in einer der Baracken an. Ich komme in einen Raum, in dem auf sechs Bildschirmen, die Reden von Hitler und Goebbels gezeigt werden. Durch die vielen Lautsprecher schallen die Jubelschreie des Publikums auf mich ein. Jubelschreie, die den Untergang des jüdischen Volkes fordern.

Das Studienzentrum in Oswiecim, so der polnische Name von Auschwitz, auf einem undatierten Archivbild. In dem Zentrum befinden sich eine Bibliothek, Seminarräume und Dokumente des jüdischen Lebens der Vorkriegszeit. Im Computerraum können Juden auf der Suche nach ihrer Familiengeschichte auch Ahnenrecherche betreiben. Viele Besucher, die das Zentrum besichtigen, sind überrascht. „Ich dachte immer, Auschwitz ist nur der Ort des Todes", sagt eine Jugendliche aus Fort Lauderdale. „Aber hier sehe ich, dass es sehr viel mehr war". © picture-alliance / dpa
Dieser Raum erinnert mich daran, dass es eben nicht nur Mitläufer gab, sondern auch zahlreiche Menschen, die von dieser Ideologie überzeugt waren. Ich versuche es, aber ich kann es in diesem Raum nicht lange aushalten. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten: Aus dem stillen Kullern meiner Tränen wird hörbares Weinen.
Leichte Vorstellung vom Ausmaß des Verbrechens
Für den zweiten Teil der Führung fahren wir nach Auschwitz-Birkenau. Das liegt etwa drei Kilometer entfernt. Hier kamen die Juden mit dem Zug an. Noch auf der Rampe, vor den Waggons, hat die SS nach einer kurzen Begutachtung entschieden, wer von ihnen arbeiten muss. Der Großteil aber wurde kurze Zeit nach der Ankunft in den Gaskammern getötet.
Dieser Ort gibt mir eine leichte Vorstellung von den Ausmaßen des Verbrechens. Er ist so unglaublich groß, so viel größer als in meiner Vorstellung. Er ist so groß, dass ich nicht vom einen ans andere Ende schauen kann. In jeder der unzähligen Baracken waren zwischen 400 und 700 Menschen zusammengepfercht. Ich versuche mich daran zu erinnern, dass hinter jedem einzelnen der Menschen ein ganz persönliches Schicksal steckt, eine Familie, Vorlieben, Hobbys, Gefühle, ein Leben eben.
Ich dachte, wenn ich hierher komme, werde ich die Dimensionen dessen, was damals passiert ist, besser verstehen. Aber es bleibt mir fern. Ich verstehe nun, dass ich es nicht verstehen kann.

Die Unterkunftsbaracken im Lager Auschwitz Birkenau (Archivbild). Elektronische Datenverarbeitung wird es Historikern bald ermöglichen, die Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz aus der Sicht der Opfer zu schreiben. Computer sollen die endlosen Namens- und Nummernlisten der Zugangsverzeichnisse, Sterbebücher und anderer Quellen abgleichen und so Zehntausende von Einzelschicksalen herausfiltern. © picture-alliance / dpa
Die letzte Station der Führung ist die sogenannte Sauna am Ende des Lagers. Hier wurden den Häftlingen damals die Haare geschoren, die Kleider abgenommen und mit Dampf desinfiziert, daher der Name. Heute hängen hier viele Bilder, die man nach der Befreiung im Lager gefunden hat. Die Gruppe macht sich auf den Weg zurück, ich bleibe alleine vor einem Porträt stehen, das mich nicht loslässt.
Foto fasst die Grausamkeit des Holocausts zusammen
Es zeigt eine junge Frau. Eine Frau mit einem so sympathischen und ehrlichen Lächeln. Sie ist kaum älter als ich. Dieses Bild fasst zusammen, was den Holocaust für mich so grausam macht. Es ist leichter sich vorzustellen, wie die schon halb toten, abgemagerten Menschen auf den Fotos der anderen Ausstellungen in den Tod gehen, denn sie sind an einem Punkt, an dem nicht mehr viel Leben in Ihnen ist. Diese Frau aber verkörpert das blühende Leben.
Ihr Lächeln strahlt eine herzliche Lebensfreude aus. Ich stelle mir vor, wie zu dieser Frau eine Familie, vielleicht Kinder gehören, wie sie wohl gelebt und gefühlt hat, denn das ist es, was ich nicht verstehe. Dieses Verbrechen der Nazis wird allein durch den Mord an so unvorstellbar vielen Menschen schon zum Schlimmsten, von dem ich gehört habe. Aber darüber hinaus hat man diesen Menschen vor dem Tod Stück für Stück alles genommen.

Blick auf schneebedeckte Gleise, die zu den Gaskammern des Konzentrationslagers Auschwitz führten (undatiertes Archivfoto). Mehr als zwanzig Prozent der Opfer des Holocaust wurden in dem zwischen den polnischen Städten Krakau und Kattowitz gelegenen Lager ermordet. Am 27.01.1945 wurde das Lager von sowjetischen Truppen befreit. © picture-alliance/ dpa/dpaweb
Man hat ihnen erst die Rechte, den persönlichen Besitz, das Zuhause genommen. Dann den Zugang zu Essen, zu Wasser und Körperpflege, ihre Freiheit und ihre Kraft. Man nahm ihnen den Stolz, die Würde, ihre Familien. Und am Ende stehen sie da, wie Skelette, ausgemergelte Nummern. Ein eingefallenes Gesicht ähnelt dem anderen und man kann sich nur noch schwer vorstellen, welches Leben, welche Freude vorher in ihnen steckte. Wenn sie so weit sind, wenn nichts mehr bleibt von dem, was ihr Leben vor dem Krieg ausgemacht hat, dann nimmt man ihnen auch noch das Leben.
Froh, die Reise gemacht zu haben
Was man einigen nicht nehmen konnte, das ist ihre Hoffnung. Der Gedanke daran gibt auch mir Hoffnung. Entlang der vielen Baracken laufe ich zurück zu meinem Fahrrad. Die Sonne am Ende dieses Tages tut gut, sie trocknet die Tränen auf meinen Wangen und ich weiß, dass ich mir nie würde vorstellen können, was hier geschehen ist.
Aber ich bin froh, dass ich diese Reise gemacht habe. Meine Generation ist nicht verantwortlich für den Holocaust. Was geschehen ist, können wir nicht rückgängig machen. Sich mit Schuldgefühlen zu plagen, holt kein einziges der Opfer zurück. Aber ich erkenne nun die Verantwortung, die wir tragen. Ich und jeder Einzelne.