
© Martina Niehaus
Vor dem Kotelett kommt der Tod
Schlachten
Was früher normal war, wird heute verdrängt: Vor dem Essen kommt das Töten. Hausschlachtungen gibt es in Selm nicht mehr. Und kleine Schlachtbetriebe unterliegen hohen Kontrollzwängen.
Mein Opa Gerd hatte Kaninchen. Einen ganzen Stall voll. Mein Bruder und ich durften sie immer füttern und streicheln. Ernst wurde es, wenn Opa hin und wieder mit einem Kaninchen auf dem Arm hinter das Gartentor in den Wald ging. Dann haben wir lieber nicht hingeguckt. Aber beim Ausnehmen habe ich meiner Oma Irene geholfen. Es war spannend, ein Kaninchenherz in der Hand zu halten. Und Oma hat mir genau erklärt, wie es funktioniert. Der Kaninchenbraten hat meinem Bruder und mir immer geschmeckt. Nur meine Oma, die heute 90 Jahre alt ist, hat noch nie eins von Opas Kaninchen gegessen. Der Stall ist heute leer. Aber ich habe nicht vergessen, dass das Töten zum Fleischessen dazugehört.
Hausschlachtungen sind heute die seltene Ausnahme
Was mich heute an meine Kindheit erinnert, ist für andere undenkbar: Das Schlachten. Die Bäuerin aus dem Schwarzwaldurlaub, die nach dem Schweineschlachten den Eimer mit Blut rührt, damit es nicht gerinnt - während sich Papa schon auf die frische Blutwurst freut. Der Nachbar, Herr Hartmann, der seine Hühner mit Körnern und leisen „Komm, Komm“-Rufen nacheinander an den Hauklotz lockt. Hausschlachtungen waren bis vor 30 Jahren noch gang und gäbe, heute sind sie seltene Ausnahme. Auch in Selm. Selbst die kleinen Schlachtbetriebe und Landmetzgereien, die „Fleisch aus eigener Schlachtung“ anbieten, müssen sich immer strengeren Kontrollen unterziehen. Und wegen immer höherer Gebühren um ihre Existenz fürchten.
Der Montag ist kein guter Tag für die Schweine, die am Sonntag in der Selmer Fleischerei Brüning angekommen sind. Denn am frühen Morgen treffen sie auf Bernd Brüning. Der 53-Jährige führt jedes Tier einzeln zum Schlachten. „Die Tiere sind 24 Stunden vor dem Schlachten hier angekommen, damit sie sich nach der Fahrt erst mal wieder beruhigen können. Wir machen das hier alles ganz in Ruhe, damit die Tiere keinen Stress haben“, erzählt Brüning. Mit der Elektrozange betäubt er das Schwein, befühlt noch einmal kurz mit dem Finger das Augenlid, ob auch nichts mehr zuckt. „Für diesen Test hat man in den ganz großen Schlachtereien keine Zeit, da geht es um Sekunden.“ Anschließend tötet er das Tier rasch mit einem Stich in die Halsschlagader. Das Schwein blutet aus. „Je weniger Stresshormone im Fleisch sind, umso besser schmeckt es“, erklärt Brüning.
Vor 20 Jahren hat der ehemalige Gartenlandschaftsbauer aufs Fleischerhandwerk „umgesattelt“, um im Betrieb seines mittlerweile verstorbenen Schwiegervaters Aloys Brüning arbeiten zu können. Heute sind es seine Frau, Fleischermeisterin Ursula Brüning, und er, die mit ihrem Hof zu den wenigen kleineren Schlachtbetrieben in Selm und Umgebung zählen.
An Hausschlachtungen auf Selmer Gebiet erinnert sich noch kaum jemand
Die Bestimmungen beim Schlachten sind streng. Hygienegründe. Der Tierarzt ist bei der Schlachtung dabei, die Kontrolleure des Veterinäramts betreten Schlacht- und Kühlräume nur in Schutzkleidung. „Früher, zu Zeiten meines Schwiegervaters, haben die Kunden ihre eigenen Wannen mitgebracht und beim Schlachten und Wursten zugeschaut. Das ist heute nicht mehr möglich“, sagt Bernd Brüning.
Und das sei auch bedauerlich. Woher kommt unser Fleisch? Die Frage beantworten viele heute ganz einfach: aus dem Supermarkt. Das Töten wurde immer weiter weggeschickt. Früher auf dem Hof, dann im lokalen Schlachthof in der Stadt. Bernd Brüning erklärt: „Was hier passiert, bleibt außen vor.“ Das sei früher besser gewesen.
Ursula Brüning gibt ihrem Mann recht: „Viele junge Leute können heute gar nicht mehr richtig kochen. Sie sind vielbeschäftigt, müssen arbeiten.“ Und wer sein Bewusstsein ändere, Wert auf gutes Fleisch aus der Landmetzgerei lege, müsse befürchten, dass es solche Betriebe bald nicht mehr geben wird.
Denn in den vergangenen Jahrzehnten entstanden in NRW immer größere, zentralere Schlachtbetriebe. Für Abertausende Schweine, Kühe und Hühner ein finaler, kurzer Zwischenstopp zwischen Viehtransport und Kühllaster.
Das Schlachten beginnt bei Franz Middelmann noch vor Tagesanbruch
Fleischermeister Franz Middelmann (68) aus Olfen gehört noch zu den alteingesessenen Schlachtbetrieben. Wie Bernd Brüning legt er großen Wert darauf, dass Schweine und Rindvieh vor der Schlachtung möglichst wenig Stress und Angst erleben. Unmittelbar bevor er die Elektrozange anwendet, berieselt er die Schweine mit warmem Wasser. Das leitet den Strom besser, „das beruhigt sie aber auch“, erzählt er. „Und ich kratze ihnen über den Rücken, schubber sie noch ein bisschen.“ Nach den Schweinen ist das Rindvieh dran. Das wird mit einem Bolzenschuss betäubt, bevor es ausgeblutet wird. An diesem Morgen hängen bereits mehrere Rinder und Schweine an hohen Haken; Franz Middelmann ist Frühaufsteher. Das Schlachten beginnt bei ihm noch vor Tagesanbruch: Um 3 Uhr morgens hat er begonnen. Obwohl alles sauber ist, hängt ein eigenartiger Geruch in der Luft. Eine Mischung aus Blut, Innereien und Fell. Neben den aufgehängten Schweinehälften liegen Teile der Kieferknochen in einem Klappkorb. Die werden gesäubert und dann an Schulen und Kindergärten weitergegeben. Als Anschauungsmaterial.
Franz Middelmann bedauert, dass viele kleinere Betriebe, die früher selber schlachten durften, heute keine Genehmigung mehr bekommen. Er selbst habe sein Unternehmen in den letzten Jahren vergrößern können, um mitzuhalten. „Wir sind mittlerweile ein EG-qualifizierter Schlachthof“, erklärt er. „Aber die Bestimmungen sind sehr streng, und das Ganze ist für viele kleinere Betriebe dann zu kostspielig. Die Gebühren für die Veterinärkontrollen sind zum Beispiel sehr hoch.“
Fahrende Metzger - „die sind sicher alle ausgestorben“
Doch die hygienischen Bedingungen sind es, die eben die größte Rolle spielen.
Hygiene ist auch der Grund, warum Landwirte kaum mehr Hausschlachtungen vornehmen. Schließlich wollen sie Fleisch und Wurst verkaufen. So macht es auch Friedhelm May vom Landwirtschaftlichen Ortsverein Selm. „Diese fahrenden Metzger, die von Hof zu Hof fuhren und den Bauern beim Schlachten halfen - diese Zeiten sind schon seit Langem vorbei. Die sind bestimmt schon alle ausgestorben“, sagt der Ortslandwirt. Wenn er ein Schwein für den eigenen Gebrauch schlachten lässt, bringt er es zu Middelmann. „Es wird nach Gewicht rausgesucht, und vorher besprechen wir mit dem Fleischermeister, welche Wurst wir zum Beispiel von dem Tier haben möchten. Dann bringen wir das Schwein frühmorgens nach Olfen und bekommen das Fleisch und die Wurst am nächsten Tag. Frischer geht es kaum.“ Ansonsten, betont Friedhelm May, unterschieden sich die Schweine, die die Familie selbst verwertet, in nichts von den Tieren, die verkauft werden. „Die Tiere sind so gleichmäßig, und das wird so eng kontrolliert, da gibt es beim Fleisch keinerlei Unterschiede.“
„Das Blut muss aufgefangen werden, sonst gibt es einen Riesenärger“
Beim Veterinäramt des Kreises Unna muss man das Tier zur amtlichen Schlachttieruntersuchung und zur Fleischuntersuchung anmelden. Eine „Störung des Allgemeinbefindens“ darf nicht vorliegen. Die Untersuchung ist gebührenpflichtig. Bei Schweinen und Einhufern, also Pferden oder Eseln, ist die Trichinenuntersuchung Pflicht. Der Amtstierarzt untersucht das Fleisch nach Fadenwürmern, die noch im 19. Jahrhundert viele Krankheitsfälle verursacht haben. Heute gibt es sie so gut wie nicht mehr - dank dieser Untersuchung.
Hausschlachtungen sind im Kreis Unna so selten geworden, dass es noch nicht einmal Zahlen gibt.
Bei einem Jäger sind mein Bruder und ich auch mitgegangen, während eines Campingurlaubs. Da war mein Bruder zwölf und ich vierzehn. Stundenlang haben wir mit Jäger „Willi“, der so um die sechzig war und einen Vollbart hatte, auf dem Hochsitz gehockt. Sahen wir ein Kaninchen, haben wir es ihm gezeigt. Wenn er dann geschossen hat, haben wir uns die Ohren zugehalten. Willi hat uns später am Campingtisch erlaubt, dem Kaninchen unter seiner Anweisung das Fell abzuziehen und es auszunehmen. Da haben auch meine Eltern zugeguckt. Sie fanden es gut, dass wir so etwas einmal machen.

Alois Thier hält rund 1000 Legehennen. Und früher hat er sie auch selbst geschlachtet. "Heute mach ich das nicht mehr", sagt der 92-Jährige. Foto Niehaus © Martina Niehaus
Thomas Dohms aus Selm ist Jäger - und gelernter Metzger. Der 59-Jährige kennt niemanden mehr, der Hausschlachtungen durchgeführt hat. „Schon während meiner Lehre in Bochum herrschte der Schlachthofzwang, allein aus hygienischen Gründen“, erinnert er sich. Es sei heute wegen der hohen Hygienestandards praktisch unmöglich, zu Hause schlachten zu lassen. „Allein beim Ausbluten: Das Blut muss ja aufgefangen werden. Sonst gibt das einen Riesenärger.“ Bei der Jagd sieht das Ganze noch etwas anders aus: „Wenn ich ein Wildschwein schieße und es im Wald ausblutet, befindet sich da ja keine Kanalisation in der Nähe.“ Ein Stück Fleisch würde der Jäger dann beim Veterinär zur Prüfung einreichen. Wer Wild genießen möchte, sollte sich allerdings direkt beim örtlichen Jäger melden. „Heimisches Wild hat mit dem Wild aus dem Supermarkt oft nichts mehr zu tun“, sagt er. „Das liest man dann oft im Kleingedruckten: ,Wild aus Gatterhaltung in Neuseeland‘.“
Die „Hühnlein“ erkennen ihren Besitzer sofort
Bei Kleinvieh gibt es übrigens keine Genehmigungen und Kontrollen. Eine Prüfung gibt es nicht, aber vielfach über Generationen ererbtes Wissen. Rassezüchter von Geflügel oder Kaninchen kommen nämlich nicht umhin, Tiere zu töten. Auch im Hühnerstall von Alois Thier aus Bork hat ein Legehennen-Leben nach rund eineinhalb Jahren ein Ende. Der 92-Jährige hat vor 60 Jahren mit den Hühnern angefangen. Jeden Morgen steht er um sechs Uhr auf; spätestens um acht steht er im Hühnerstall und kümmert sich um seine Tiere. Sie erkennen ihn sofort, wenn er den Stall betritt und mit sanfter Stimme „Hüüüüüühnlein“ ruft. Auch auf den Arm nehmen darf Alois Thier sein Federvieh. „Das sind ganz fromme Hühner“, sagt er liebevoll.
Früher, erzählen er und seine Frau Gertrud, hätten sie die Tiere dann auch selbst geschlachtet. „Jedes Wochenende haben wir geschlachtet, und auch oft zu den Feiertagen und an Ostern. So kennen wir es auch noch von unseren Eltern; das war ganz normal. Aber heute schaffen wir das einfach nicht mehr“, sagt die 86-jährige Gertrud Thier. Auch die Hygiene ist für Alois Thier ein Grund, nicht mehr selbst zu schlachten. Seine Legehennen, die mit knapp zwei Jahren zu alt für das Eierlegen geworden sind, werden abgeholt und zu einem Schlachter nach Ahaus gebracht. Und außerdem, sagt der Selmer „Hühnerbaron“, gefallen ihm seine Hühnlein lebendig viel besser.
Eine Hausschlachtung ist mir als besonders unangenehm im Gedächtnis geblieben. Nicht, weil ich es nicht kannte. Sondern weil es sich um mein schwarzes Kaninchen handelte. „Hoppelklee“. Und weil meine Mutter mir nicht die Wahrheit gesagt hatte. Sie hatte behauptet, Hoppelklee sei von einer Hasenfee befreit und in den Wald gelassen worden. Sie zeigte mir die offene Käfigtür als Beweis. Es hätte glatt funktioniert, wenn mein Opa sich nicht beim nächsten Hasenessen verplappert und mein leckeres Kaninchen gelobt hätte. Auch wenn ich Mama heute verstehe: Ich war lange richtig sauer auf sie wegen dieser Lüge.
Begegnungen mit interessanten Menschen und ganz nah dran sein an spannenden Geschichten: Das macht für mich Lokaljournalismus aus.
