Die Ampel an der Niehues-Kreuzung ist grün - und trotzdem hält der BMW 325i mit dem Dortmunder Kennzeichen an. Das ist ungewöhnlich - zumal an diesem Knotenpunkt zwischen Waltrop und Bork eigentlich immer viel los ist. Der Wagen hält direkt neben einem Streifenwagen der Polizei - Ivonne Hachtkemper und Matthias Larisch von Woitowitz beobachten von dort aus den Verkehr an der Kreuzung. Seit nicht mal einer Stunde läuft an diesem Vormittag des 14. Juni 2000 eine Ringfahndung im Großraum Dortmund, das wissen die beiden. Was sie nicht wissen, weil es nur über den Dortmunder Polizeifunk und nicht den des Kreises Recklinghausen verbreitet wurde: Das Auto, nach dem gesucht wird, wurde um 10.17 Uhr in Lünen gesichtet - etwa 20 Kilometer von der Kreuzung entfernt, ganz in der Nähe also. Um 10.29 Uhr hält es neben ihrem Polizeiwagen. Ivonne Hachtkemper und Matthias Larisch von Woitowitz sind wenig später tot.
Michael Berger heißt der Mann, der sie mit drei Schüssen aus seiner Pistole in den Kopf trifft. Es ist nicht der erste Mord, den er an diesem Mittwochmorgen begeht. Kurz vorher hat er in Dortmund bei einer Kontrolle einen weiteren Polizisten mit zwei Schüssen in die Brust und zwei Schüssen in den Kopf getötet, eine Beamtin mit einem Schuss ins Bein schwer verletzt - deshalb die Großfahndung.
Nach der Tat an der Kreuzung in Waltrop setzt Michael Berger seinen BMW wieder in Bewegung - und fährt noch weiter in die Richtung seines früheren Zuhauses. Nach Bork.

Auto in Vinnum gefunden
Was er in den nächsten Stunden genau gemacht hat, ist nicht bekannt. Sein Auto wird später an diesem Tag - gegen 16.30 Uhr - in einem kleinen Waldstück in Vinnum gefunden. Michael Berger hat sich darin selbst umgebracht - mit einem Schuss in die rechte Schläfe.
24 Jahre nach seinen Taten sind immer noch nicht alle Fragen aufgeklärt. Eins ist allerdings unstrittig: Michael Berger war ein Neonazi. Und als solcher in Selm stadtbekannt.
Zum Tatzeitpunkt wohnt Michael Berger in Dortmund, er ist 31 Jahre alt, arbeitslos. In Dortmund hat er in den 80er-Jahren eine Ausbildung zum Fotokaufmann gemacht. Schwarze Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln soll er in der ersten Zeit dabei getragen haben - bis ihm das verboten wurde. Er verkehrt im Schützeneck - der Kneipe in der Dortmunder Nordstadt, in der um den Jahrtausendwechsel der bekannte Neonazi Siegfried Borchardt (alias SS-Siggi) ein und aus ging. Ein Bild von Adolf Hitler trug er in seiner Geldbörse - sowie ein Mitgliedsausweis der NPD. Der SS-Wahlspruch „Meine Ehre heißt Treue“ samt Totenkopf war auf das Armaturenbrett seines BMWs geklebt, im Fußraum fanden sich CDs mehrerer rechtsradikaler Bands. Dutzende weitere Nazi-Devotionalien werden später bei der Durchsuchung seiner Wohnung gefunden - genauso wie Hinweise auf seine Verbindungen zur Neo-Nazi-Szene. In Dortmund, aber auch in Bork, wo sein Vater und seine Stiefmutter wohnen.
An der Stelle, an der am 14. Juni 2000 das Auto von Michael Berger gefunden wurde, versammeln sich eine Woche nach seinem Selbstmord mehrere Skinheads aus der Region. „Borker Terrorszene“ oder „Lippefront Bork“ nannte sich die jugendliche Gruppe damals. In den Spurenakten findet sich zwar der Hinweis auf die Versammlung an der Todesstelle Bergers - weiter ermittelt wurde dazu damals zunächst aber nicht. Auch den zahlreichen Verbindungen in die Dortmunder Nazi-Szene geht die Polizei bei den Ermittlungen nicht nach. Die jubelt 2000 mit Stickern und Flugblätter mit der Aufschrift „3:1 für Deutschland“.
Die Zugehörigkeit zur rechten Szene sei jedoch nicht tatursächlich gewesen, heißt es schon wenige Tage nach den Morden von der Staatsanwaltschaft.
Kalaschnikow in Wohnung in Bork gefunden
Außergewöhnlich ist die Anzahl an Waffen, die die Polizei findet. In Bergers Wohnung und im Auto befinden sich mehrere scharfe Revolver unterschiedlichen Kalibers, ein Elektroschocker, zwei Gewehre, eine Handgranate. In einer Dachschräge in der Wohnung des Vaters in Bork finden die Beamten ein von Michael Berger verstecktes Sturmgewehr - eine AK 47 Kalaschnikow. Mit der, so erzählte es ein Freund Bergers der Polizei, habe er auch Schießübungen gemacht. In den Rieselfeldern fanden die Beamten daraufhin passende Patronenhülsen.
„Am naheliegendsten dürfte es sein, dass Berger aus Furcht vor einer Entdeckung seines illegalen Waffenbesitzes und einer vorhandenen depressiven Störung vor der unmittelbar bevorstehenden Polizeikontrolle in Dortmund Angst hatte und daher ausrastete“, erklärt die Staatsanwaltschaft in der Einstellungsverfügung.

Dass Michael Berger psychisch krank war, hatte die Polizei damals schnell ermittelt. Im Auto wurden Antidepressiva gefunden. Es stellte sich außerdem heraus, dass Berger am Tag der Taten die Psychiatrie in Dortmund-Aplerbeck verlassen hatte, in der er mehrere Tage verbracht hatte. Wegen Depressionen und suizidalen Tendenzen. Seine Mutter hatte sich ein halbes Jahr nach seiner Geburt das Leben genommen.
In den Tagen und Wochen nach dem 14. Juni 2000 werden immer mehr solcher Details bekannt. Zum Beispiel soll Michael Berger Polizisten gehasst haben, nachdem eine seiner Freundinnen ihn mal mit einem Polizisten betrogen habe. Die besagte Freundin stellte das später allerdings ganz anders dar.
Thema im NSU-Untersuchungsausschuss
War Michael Berger wirklich ein Einzeltäter? War sein Handeln eine Kurzschlussreaktion? Spielten seine rechte Gesinnung und seine Verbindungen in die radikale Szene keine Rolle?
14 Jahre nach der Tat stand das noch mal auf dem Prüfstand. Denn auch die Polizistenmorde von Michael Berger waren Thema im Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Vor allem der zeitliche Zusammenhang der Mordserie des NSU und der Taten Bergers war für das Parlament ein Grund, sich am Rande auch noch mal mit diesen auseinanderzusetzen.

Allerdings ist das Ergebnis vor allem eine recht deutliche Offenlegung der Lücken in der Arbeit von Polizei und Staatsschutz im Jahr 2000. Zeugen seien teilweise nie vernommen worden, Hinweise seien nicht verfolgt worden. So zum Beispiel auch der, dass Berger für einen vierten Mord in Celle während seiner Zeit bei der Bundeswehr verantwortlich sein könnte.
Auch der Untersuchungsausschuss konnte die Taten von Michael Berger jedoch nicht schlussendlich aufklären. Gerüchte, dass Berger V-Mann des Verfassungsschutzes gewesen sein könnte, wurden ebenfalls nie aufgeklärt.
20 Jahre nach den brutalen Polizistenmorden von Michael Berger enthüllte der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange eine Gedenktafel für die drei Opfer. „Die Verbrechen dieses Rechtsextremisten erscheinen wie ein Symbol für Hass und Gewalt“, wird Lange in einer Pressemitteilung zitiert. „Sie mahnen zur Wachsamkeit und bekräftigen uns darin, auch weiterhin unentwegt den Kampf gegen Extremismus jeder Art fortzuführen.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist ursprünglich im August 2024 erschienen. Wir haben ihn erneut veröffentlicht.