Es ist sonnig, aber kalt an diesem Wintermorgen in Cappenberg: Erkältungswetter. Dass die eigene Stimme ausgerechnet beim Betreten der logopädischen Praxis schräg gegenüber dem weithin sichtbaren Wasserturms versagt, entbehrt nicht eines gewissen Humors. Ein-, zweimal Räuspern, und schon ist er weg: der lästige Frosch im Hals. Das meint zumindest der eintretende Gast. Die blondgelockte Hausherrin schüttelt indes den Kopf.
„Räuspern“, sagt Eva Döbbe-Jeismann, „ist eigentlich nie eine gute Idee.“ Und während sie das noch sagt, wird der Drang ihres Gegenübers übermächtig, mit einem erneuten Luftstrom den vermeintlichen Fremdkörper in der Kehle hinaus zu bugsieren. Ein echter Teufelskreis. Denn jedes zusätzliche Räuspern reizt erneut Kehlkopf, Stimmlippen und Schleimhaut. Räuspern, reizen, räuspern. Eva Döbbe-Jeismann füllt Wasser in ein Glas und schiebt es lächelnd über den Tisch. „Trinken hilft da viel besser.“ Der erste Tipp an diesem Vormittag.
Ohne dass das Gespräch mit der Atem-, Sprech- und Stimmlehrerin richtig begonnen hätte, steht bereits fest: Der Besuch in einer logopädischen Praxis - in NRW gibt es fast 1800 davon, allein in Selm inzwischen vier - ist für jede und jeden etwas. Denn alle Menschen nutzen die Stimme, wollen mit ihr Gehör finden, gefallen, bewegen, überzeugen - ob auf der Theater- oder Konzertbühne, im Kundengespräch, auf der Kanzel, vor der Schulklasse oder zu Hause. Und nicht wenige nutzen ihre Stimme dabei falsch. Etwas, das Annika Entner nur zu gut kennt.
Training gegen Heiserkeit
„Ich war immer wieder heiser“, erzählt die junge Frau aus Lünen: etwas, das sie weder in ihrem Studium gebrauchen kann, noch in ihrem späteren Beruf als Lehrerin und erst recht nicht in ihrem aktuellen Job hinter der Bäckertheke. Nachdem feststand, dass kein organisches Problem vorliegt, ging sie zu Eva Döbbe-Jeismann. Das war vor mehreren Wochen. Seitdem trainiert Annika Entner. Und macht Tag für Tag Fortschritte. Training? Das hört sich nach Sport an. „Stimmt genau“, sagen beide Frauen und lachen.
Eva Döbbe-Jeismann und ihre Patientin stehen sich gegenüber. Die Füße stecken jeweils in warmen Socken. Sie dehnen und strecken sich, schütteln Arme und Beine aus und kreisen ihre Becken. Der Auftakt des Stimmtrainings kommt ganz ohne Stimme aus. Es geht um die Atmung. Und um die Muskulatur.
Freude am Singen
Aufwärmübungen - der zweite Tipp für jedermann an diesem Vormittag. „Sportlerinnen und Sportler machen sich auch warm, bevor sie loslegen“, sagt Döbbe-Jeismann. „Das ist beim Stimmtraining genauso.“ Der stimmliche Muskelapparat müsse vor einem Einsatz sorgfältig aufgewärmt werden. Sonst drohe Verletzungsgefahr: zum Beispiel Heiserkeit.
Ob hoch oder tief, leise oder laut: Die Stimme entsteht im Kehlkopf durch das feine Zusammenspiel von Atemluft, Nerven, Muskeln und den sogenannten Stimmlippen: mit Schleimhaut überzogene elastische Bänder. Die umgangssprachlich viel bekannteren Stimmbänder sind nur ein kleiner Teil davon. Luft aus der Lunge versetzt sie in Schwingung und lässt Töne entstehen: die Voraussetzung zum Sprechen. Und zum Singen: etwas, das Eva Döbbe-Jeismann von klein auf liebt. Und das die heute 52-Jährige - wenn auch auf Umwegen - zu ihrem Beruf gebracht hat.

„Ich habe schon immer sehr viel Musik gemacht“- ob in Chören oder Bands. Zwar hatte sie zunächst einen kaufmännischen Beruf erlernt, ist dann aber noch einmal neu durchgestartet mit der dreijährigen Ausbildung zur Atem-, Sprech- und Stimmlehrerin. Mehr als 20 Jahre ist das her. „Seitdem habe ich zahlreiche Fort- und Weiterbildungen gemacht“ - etwa Stimmtraining, das sie für Schauspielerinnen und Schauspieler im Bildungswerk für Theater und Kultur in Hamm anbietet.
Jetzt wird es lauter in der Praxis. Döbbe-Jeismann und Entner werfen sich Silben zu wie Bälle - mit ausholenden Armbewegungen: „Ffffft“, „Schschsch“, „Ssss“. Danach geht es weiter zu ganzen Wörtern. „Rauschen“, „riechen“, „zuckt“. Das macht inhaltlich keinen Sinn, aber stimmlich dafür umso mehr. Falls Annika Entner gerade noch etwas verspannt gewesen sein sollte. Jetzt ist sie es nicht mehr. Nicht nur der Kehlkopfbereich, sondern auch Kiefer und Nacken sind locker: „Wwwwwt.“ Beste Voraussetzungen die nächste Übung: das laute Vorlesen. Etwas, das der Studentin früher große Probleme bereitet hat. Auch wegen der Nervosität. Irgendwann, sagt sie, sei bei Referaten die Stimme immer weg gewesen. Und das Selbstbewusstsein auch.
Selbstbewusstsein durch Stimme
Die Studentin aus Lünen hatte ihr Problem beim Sprechen selbst erkannt. Bei Kindern sind es in der Regel die Eltern, die sich sorgen. Auffälligkeiten werden auch in der Kita oder bei den Vorsorgeuntersuchungen registriert. „Zu mir kommen nicht nur Menschen mit Stimmproblemen, sondern insbesondere auch Kinder mit Sprachstörungen oder Sprachentwicklungsverzögerungen“, sagt Eva Döbbe-Jeismann. In der Regel treten solche Schwierigkeiten bei Mädchen und Jungen mit zwei, drei Jahren auf. Bei der Arbeit mit den kleinen Patienten hilft ihr nicht nur ihre lange Berufserfahrung, sondern auch ihre Erfahrung als Mutter von drei Kindern.
Ob nach einem Schlaganfall, bei Morbus Parkinson oder aus anderen neurologischen Gründen: Stimm- und Sprachstörungen können Menschen jeden Alters treffen. „Meine ältesten Patienten“, sagt Döbbe-Jeismann, „sind älter als 90 Jahre.“ Möglichkeiten, die Störungen zu lindern, finden sie und andere Logopädinnen und Logopäden ebenfalls für alle Generationen. Egal, wie alt die Hilfesuchenden sind: Die Kosten ihrer logopädischen Behandlung werden in der Regel von den gesetzlichen oder privaten Krankenkassen getragen.
Was sich jeder für wenig Geld selbst kaufen kann: einen dicken Strohhalm und eine Wasserflasche. Tipp drei an diesem Vormittag: blubbern. Wer Luft ins Wasser pustet und dabei ein beständiges „uuuu“ in seiner natürlichen Stimmlage - „das ist die Höhe, mit der man zustimmend 'Mhmm' sagt“ - mitschwingen lässt, trainiert die Stimme: eine Methode, die in den 1990er-Jahren die finnische Logopädin Marketta Sihvo entwickelt hat. Sie nannte sie „Lax Vox“ - freie Stimme - und erfand den passenden, immer wieder neu verwendbaren Lax-Vox-Schlauch, wie Eva Döbbe-Jeismann berichtet. Nach drei bis fünf Minuten blubbern ist die Stimme frei. Und die Stimmung gehoben - zumindest in der Praxis am Wasserturm. „Das macht Spaß“, sagt Annika Entner und lacht.
Die neue Praxis am Cappenberger Damm 44 A ist von montags bis freitags zwischen 9 und 16 Uhr sowie nach Vereinbarung geöffnet. Infos unter 0172/2342339.
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