
© Stefan A. Walke
Düsteres Werk in 3D: Philharmonie Westfalen wendet sich an neues Publikum
Neue Wege der Kultur
Mit einem Stück, das nach dem 11. September und bei der Beisetzung John F. Kennedys gespielt wurde, möchte die Neue Philharmonie Westfalen für Aufsehen sorgen. Unser Medienhaus macht mit.
Das Adagio for Strings von Samuel Barber ist ein regelrechter Hit der klassischen Musik. Kaum ein Musikstück vertont tiefe Trauer so effektiv wie der langsame Streichersatz des US-Amerikaners. Die Neue Philharmonie Westfalen (NPW) hat sich das Adagio ausgesucht, um abseits typischer Konzertmitschnitte ein Produkt zu schaffen, das auch Menschen anspricht, die nicht ständig in klassische Konzerte gehen. Entstanden ist ein stylisches und düsteres Schaffenswerk, das als Kommentar zu zwei Jahren Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine gelten kann.
Um ein breiteres und auch anderes Publikum zu erreichen, kooperiert die Neue Philharmonie für die Veröffentlichung des Videos mit den Medienhäusern Bauer, Lensing und Rubens. Am Donnerstag (24. März) feiert es um 20 Uhr Premiere auf unseren Online-Plattformen.
Neue Umgebung dank Greenscreen
Um das atmosphärische Adagio auf visueller Ebene erfahrbar zu machen, hatte die NPW mit dem Dorstener Videokünstler Stefan A. Walke (VJ SAW) zusammengearbeitet. Das Orchester wurde kurzerhand in einen Greenscreen-Raum gesetzt, einen Raum mit komplett grünen Wänden. In der Computernachbearbeitung wurde das Grün dann durch düstere Grafiken ersetzt, die die Stimmung und den Verlauf der Musik mitzeichnen.

Für die Dreharbeiten mit dem Orchester wurde das Recklinghäuser Depot kurzerhand zum Greenscreen-Studio ausgebaut. Statt der grünen Wände wurden in der Nachbearbeitung die Animationen eingefügt. © Stefan A. Walke
Barbers Adagio for Strings ist Teil der modernen Popkultur. Als Trauermusik ist es auf den öffentlichen Beisetzungen von Albert Einstein und John F. Kennedy gelaufen. Für viele ist es unweigerlich mit der Tragödie des 11. Septembers 2001 verbunden. Um der Opfer des Terroranschlags zu gedenken, wurde es am 13. September auf Radiostationen weltweit gesendet.
Auch im Soundtrack des Antikriegsfilms „Platoon“ dient es als eine Art musikalisches Mahnmal. Dabei ist das Streicherstück keinesfalls weinerlich, vielmehr feierlich, um die Tiefpunkte und Trauer der Menschen wissend, schreitet es behutsam voran.
Video als Spiegel des aktuellen Weltgeschehens
Trauer passt für Dr. Rasmus Baumann, Generalmusikdirektor der Neuen Philharmonie Westfalen, perfekt in die vergangenen beiden Jahre.
„Zuerst war da die Corona-Pandemie mit etlichen Toten und all den Einschränkungen bis zu dem Punkt wo wir keine Konzerte mehr spielen konnten. Jetzt mit dem Krieg in der Ukraine ist alles nochmal schlimmer geworden“, resümiert Baumann.
An dieser Stimmung orientiert sich auch das Video-Projekt. Stefan Walke verwendet keine realen Bilder der Pandemie oder des Krieges. Vielmehr möchte er mit formgebenden Videoelementen die Musik auch visuell erlebbar machen. Das Endprodukt ist düster, stylisch und synästhetisch. Dunkele Verästelungen wabern um die Musiker herum und folgen den sich vorantastenden Streicherläufen. Nur an einer Stelle hellt das Ambiente auf.
„Es gibt in dem Stück diesen Höhepunkt in Takt 57, da wird man von der Musik wie hochgehoben, wird einen Moment oben gehalten und danach geerdeter wieder abgesetzt“ beschreibt Rasmus Baumann die Wirkung der Musik.
Brückenschlag zu einem klassikuntypischen Publikum
Hier zeigt sich auch die Stärke einer animierten Version. Vorgänge, die sonst hauptsächlich in der Musik selbst liegen, können von den Videoelementen aufgegriffen und verstärkt werden. Trotzdem bleiben die Musiker als eigentliche Transporteure des Klangs im Vordergrund.
Es öffnet sich eine Ebene, die auch Menschen, die in klassischer Musik nicht zu Hause sind, einen schnellen Zugang ermöglicht.
„Brücken schlagen ist uns sehr wichtig. Im Endeffekt soll das Video auch die Leute erreichen, die nicht eh schon in den Rängen der Konzerthäuser sitzen“, sagt Rasmus Baumann.
Für die Musiker war die Videoeinspielung eine Herausforderung. „Es geht nicht mehr nur darum, den perfekten Klang hinzubekommen, die Bewegungen müssen auch in die Choreographie und Abläufe des Videos passen“, erzählt Cellist Mark Mefsut. „Das Adagio ist an sich schon ein sehr zerbrechliches Stück. Wir haben bestimmt hundert Einspielungen gemacht, bis alles komplett gesessen hat.“
Idee kam bei einem Weihnachtskonzert
Die Idee für das Projekt ist ein stückweit aus der Notsituation geboren, die Kulturschaffende seit Beginn der Corona-Pandemie begleitet. „Wie viele andere sind wir dazu übergegangen Konzerte als Videos online zu streamen“, erzählt Rasmus Baumann. Bei einem Weihnachtskonzert hätten sie dann mit der Projektion von Weihnachtsmotiven im Hintergrund experimentiert. „Da habe ich mir gedacht, warum nicht den kompletten Hintergrund neu machen“, erzählt der Dirigent und Generaldirektor.

Dirigent Rasmus Baumann, Cellist und Pressesprecher der NPW Mark Mefsut und Videokünstler Stefan Walke v.l.n.r. - Die Videopremiere ihres Adagio for Strings feiern sie auf den Onlineplattformen der Ruhrnachrichten, der Recklinghäuser Zeitung und des Hellweger Anzeigers. © Mahad Theurer
Er habe sich an Stefan Walke erinnert, dessen Videoarbeiten er noch von früher kannte und ihm einige Stücke zur Auswahl gestellt. Die Wahl sei letztlich auf das Adagio for Strings gefallen. Bereits im März 2021 hätten die Dreharbeiten zu dem Video begonnen. Ein Raum im Depot Recklinghausen wurde hierfür zum Greenscreenstudio umfunktioniert.
Bei den Videoelementen sei es wichtig gewesen, Klischees zu vermeiden, sagt Stefan Walke. Er habe die Musik wirken lassen und die Formen in Gestaltungsprogrammen ohne Vorlage geschaffen. Ob das Video das einzige seiner Machart bleibt, ist erstmal offen. Das Adagio for Strings jedenfalls endet nicht wie gewohnt in der Grundtonart, sondern auf der Dominante auf einem Fragezeichen.
Mahad Theurer, geboren 1989 in Witten, ist studierter Musikjournalist, davon abgesehen ist er stark sportbegeistert und wohnt als Schalke-Fan manchmal einfach in der falschen Stadt. Aber Ruhrgebietscharme, den es zu beschreiben gilt, haben Dortmund und Umgebung auch reichlich.
