Das erste barrierefreie Mehrfamilienhaus in der Selmer Innenstadt steht in der zweiten Reihe: nicht direkt an der Kreisstraße, die sowohl als Durchfahrtsstraße als auch als Einkaufsstraße dient, sondern dahinter. Wenn Bauherr Benedikt Warnke auf dem Laubengang vor seiner Haustür steht, kann er die acht mehr als 100 Jahre alten Kreisstraßenhäuser von hinten sehen, die seit 2017 für Gesprächsstoff sorgen in Selm: seitdem die Stadt sie für 4,2 Millionen Euro gekauft hatte. Sie wollte freie Hand haben für eine neue Bebauung. Die soll voraussichtlich im nächsten Jahr erfolgen.
Benedikt Warnke hatte schon einige Jahre Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sich sein Ausblick und der der Mieterinnen und Mieter verändern wird. Der Discounter Netto und der Drogeriemarkt dm werden von ihren bisherigen Standorten in Selm umziehen und künftig Warnkes neue Nachbarn sein. Auch das ist schon länger bekannt. Vergleichsweise neu ist aber der Entwurf, wie genau die Neubaupläne für das Wohn- und Geschäftshaus mit der knapp 100 Meter langen Hausfront an der Kreisstraße aussehen wird. Und der macht Warnke Sorgen.
Parkplatz bis zur Grenze
Wo jetzt die ruhigen, grünen Hinterhöfe der alten, leeren Häuser liegen, soll sich der künftige Parkplatz befinden, der bis unmittelbar an seine Grundstücksgrenze reichen wird - ohne Sichtschutz bietenden Grünstreifen. 100 Stellflächen für die Pkw der Kundinnen und Kunden sowie zusätzlich 20 für künftige Mieterinnen und Mieter der geplanten Wohnungen im Obergeschoss der neuen, geräumigen Geschäfte, wie Warnke weiß: „Das ist eine Menge, zumal wenn der Parkplatz Tag und Nacht offenbleibt.“ Zur anderen Seite der Wohnung ist es auch nicht besser. Dort schaut er auf den neuen Rewe-Markt und den benachbarten Aldi, die im Sommer 2021 eröffneten. Der Ausblick macht dem Anwohner aber noch die wenigsten Sorgen. Größere Befürchtungen hat er wegen des Lärms und der Klimaverschlechterung.
Warnke hat für sein Haus ein Blockheizkraftwerk. Angesichts der Energiekrise setzt er inzwischen noch stärker auf Photovoltaik. Zusätzliche Paneele zu den bestehenden sind bereits bestellt. In den Beeten und Balkonkästen gedeihen insektenfreundliche Dauerblüher. Und in den Nistkästen an den Hauswänden fühlen sich nicht nur Vögel wohl, sondern auch Fledermäuse. Warnke ist Nachhaltigkeit ein Anliegen. Wie bei seinem eigenen Bauprojekt wünscht er sich auch bei den großen Nachbarn besondere Rücksicht auf die Natur. Dabei sieht er noch Luft nach oben. Dass 6.000 Quadratmeter überbaute und versiegelte Fläche kompensiert werden sollten durch 1.300 Quadratmeter Dachbegrünung und sechs neue Bäume, hält er zum Beispiel für zu kurz gesprungen.
Ortstermin mit Ten Brinke
Mitte Oktober hatte der Selmer seine Bedenken bereits aufgeschrieben und der Stadtverwaltung geschickt. Dabei geht es um die befürchtete innerstädtische Klimaverschlechterung und die Minderung der eigenen Wohnqualität. Die Stadt reagierte. Sie bemüht sich um einen Interessenausgleich. Ausdruck dessen war ein Vor-Ort-Termin Anfang November mit allen Beteiligten, auch mit Annika Wilkes, der Projektleiterin der Ten-Brinke-Gruppe.
Mit Ten Brinke hatte der Selmer Stadtrat 2020 einen Erbpachtvertrag geschlossen. Details über die Zahlungen waren nie bekannt geworden. Aber Vermutungen. Die Stadt soll laut dem UWG-Fraktionsvorsitzenden Dr. Hubert Seier 2,5 Millionen Euro bei dem Geschäft mit Ten Brinke „vernichtet haben“: die Basis, um Selms beste Innenstadtlage zu modernisieren. Seit Ende 2021 sind alle 39 Wohnungen in den alten Häusern leer. Wann Ten Brinke mit Abriss und Neubau beginnt, ist aber noch ungewiss. Das Unternehmen ist offiziell noch immer nicht Eigentümerin. In den Vertrag einsteigen werde es erst, wenn Baurecht bestehe, hatte es erklärt. Auch Annika Wilkes will da nicht konkreter werden. „Wir hoffen, dass es im nächsten Jahr etwas werden wird“, sagt sie nur. Für den besorgten Warnke hat sie auch nicht viel Konkreteres, aber immerhin eine Geste des guten Willens.

„Wir versuchen die Anregungen und Bedenken der Anwohner zu berücksichtigen“, sagt die Projektleiterin am Telefon. Und: „Ich bin mir sicher, dass wir eine Kompromisslösung finden.“ Wie die aussehen kann, will sie nicht öffentlich diskutieren. Auch die Stadtverwaltung hält sich bedeckt. Ideen für Kompromisse hat Warnke.
Wenn direkt neben seinem Haus zuerst die Bewohner-Parkplätze des Neubaus geschaffen werden könnten und dann erst die Kundenparkplätze, gebe es weniger Fahrzeugbewegung direkt vor der Nase. Auch einen Pflanzstreifen wünscht er sich. Und eine kleinere Öffnung nach vorne in Richtung Kreisstraße. Da, wo jetzt ein zwei Meter breiter Korridor ist, soll es künftig einen 6,50 Meter breiten Durchgang geben: ein Einfalltor für mehr Straßenlärm, wie nicht nur er befürchtet. Warnke zur Seite steht Architekt Wilhelm Gryczan-Wiese, der das 2010 bezugsfertige Haus mitgeplant hatte.

Zurzeit bereitet die Stadtverwaltung die öffentliche Auslegung des Bebauungsplanentwurfs vor: Gelegenheit, weitere Anregungen und Bedenken vorzubringen. „Mit der Rechtskraft des Bebauungsplanverfahrens ist nach jetzigem Stand im ersten Halbjahr 2023 zu rechnen“, sagt Stadtsprecher Norbert Zolda: die Voraussetzung, damit Ten Brinke den Bauantrag stellen kann.
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