Anita Schlüter aus Olfen berichtet bei einer Lesung in Selm von ihren Nahtoderlebnissen © Sabine Geschwinder
Nahtoderlebnis
Nahtoderlebnis: Wie Anita Schlüter aus Olfen dem Tod zweimal knapp entkam
Anita Schlüter aus Olfen wäre zweimal fast gestorben. Sie erzählt von ihren Erlebnissen zwischen Leben und Tod - und was diese sie über das Leben gelehrt haben.
Das Gespräch über den Tod, beginnt mit einem Satz über das Leben. „Das Leben ist ein Geschenk“, sagt Anita Schlüter.
Die 60-Jährige sagt diesen Satz mit viel Nachdruck und einer angenehm weichen, ruhigen Stimme. Ihre blauen Augen strahlen dabei. Das Leben ist ein Geschenk. Anita Schlüter sagt diesen Satz nicht nur, sie meint ihn auch.
Eine Geschichte, wie sie dem Tod zweimal entkam
Während sie ihn sagt, sitzt sie in einem kleinen Raum in ihrem Haus, den sie sich als Rückzugsort erkoren hat. In der Mitte des Raums ist eine Massageliege aufgebaut. Es riecht nach ätherischen Ölen, das Fenster gibt den Blick frei auf den Hof und eine grüne Wiese. Ein Blick in die Natur, die Anita Schlüter so mag. Der Raum ist dekoriert, bunte Bilder mit Blumen und Herzen hängen an den Wänden. In dem Raum steht auch ein Bücherregal, in dem Anita Schlüter einige ihrer Notizbücher aufbewahrt. Darin hat sie ihre Gedanken aufgeschrieben. Gedichte über das Leben. Und die Geschichte, wie sie dem Tod zweimal ganz knapp entging.
Anita Schlüter mit einem ihrer drei Alpakas. Sie liebt die Natur. © Sabine Geschwinder
Das erste Mal war im August 1985. Damals war sie gerade 26 Jahre alt und seit drei Monaten verheiratet. Eigentlich ein Grund für großes Glück. Doch Anita Schlüter sagt: „Ich hatte damals einfach keine Kraft mehr.“ Zuvor hatte man bei ihr Morbus Crohn diagnostiziert. Eine schmerzhafte, chronische Erkrankung des Darms. Dreimal innerhalb weniger Monate war sie bereits operiert worden. Nun stand die vierte Operation an.
Anita Schlüters Herz hörte auf zu schlagen
Am Tag der Operation fühlt sich Anita Schlüter nicht gut. Doch sie sagt sich selbst: „Du ziehst das jetzt durch.“ Die Operation läuft allerdings nicht wie geplant. Es treten Komplikationen auf. Das Herz von Anita Schlüter hört auf zu schlagen. Die Ärzte sind in Aufruhr, versuchen, sie wiederzubeleben. Kämpfen um ihr Leben. Doch davon bekommt Anita Schlüter in diesem Moment nichts mit.
All die Hektik ist für sie nicht existent. „Das Gefühl, das ich erleben durfte, als ich tot war, ist das unglaublichste Gefühl, was ich jemals spüren durfte“, sagt sie über diesen Moment. Sie sieht keine Bilder, sieht sich auch nicht von außen, wie sie über dem Geschehen schwebt. Sie erlebt nur Empfindungen und erblickt ein Licht, so hell, wie sie es noch nie zuvor - und nie wieder danach - gesehen hat. „Sternenhell.“ Sie hat keine Angst, keine Zweifel, nur Gefühle des Glücks. Gleichzeitig vernimmt sie Rufe. Jemand ruft ihren Namen. „Aber ich wollte mich nicht rufen lassen“, sagt sie. Der Ort, die Gefühle, waren zu schön. Und doch, so glaubt sie heute, könnte es ihre Beziehung zu ihrem Mann Albert gewesen sein, die sie doch zurückgehalten hat. Dieses Gefühl irgendwo in ihr, dass sie ihn nicht alleine lassen wollte.
Sie kommt zurück. Nach Minuten des Schreckens für die Ärzte. Nach einer gefühlten Ewigkeit in der Glückseligkeit für sie. „Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, hört sie von den Ärzten. Sie ist verwirrt. Was war das, was ihr gerade erlebt hat? Sie lässt sich nichts anmerken. Was ihr geschehen ist, verdrängt sie.
Wissenschaft vs Glauben
Das so genannte Nahtoderlebnis fasziniert die Wissenschaft schon seit mehr als 100 Jahren. In seinem Buch „Notizen über den Tod durch Absturz“ (1892) beschreibt der Schweizer Geologe und Bergsteiger Albert Heim die Nahtoderlebnisse von 30 seiner Bergsteiger-Kollegen. Auch er selbst hatte ein solches Erlebnis gehabt. Der Tod durch Absturz, für Albert Heim, ist er dadurch ein „subjektiv schöner Tod“.
Die Frage, ob Nahtod-Erlebnisse tatsächlich ein Erlebnis beschreiben, das den Übergang von dieser Welt ins Jenseits zeigt, ist aber umstritten. Die Naturwissenschaft kann es nicht vollständig erklären. Viele Hirnforscher zum Beispiel glauben, dass der Verlust von Sauerstoff im Gehirn für die Erlebnisse verantwortlich ist.
Der Soziologie-Professor Hubert Knoblauch befragte Ende der 1990er-Jahre in einer Interview-Studie rund 2000 Menschen zu dieser Thematik. Vier Prozent von ihnen gaben an, ein Nahtod-Erlebnis gemacht zu haben. Diese Menschen kamen aus allen gesellschaftlichen Schichten.
Große Unterschiede zwischen Geschlecht, Stadt oder Land oder anderen Unterscheidungsmerkmalen gab es nicht. Zwar stellte Knoblauch fest, dass Menschen im Westen eher dazu neigten, von hellen Lichtern und positiven Erfahrungen zu berichten. Während Menschen im Osten von einem bedrohlich wirkenden dunklen Tunnel sprachen. Für ihn ein Indikator dafür, dass solche als religiöse Erlebnisse empfundenen Erfahrungen in der ehemaligen DDR nicht gern gesehen waren. Dennoch kommt Knoblauch letztlich zu dem Ergebnis, dass sowohl Natur- als auch Kulturwissenschaften hier an eine Grenze stoßen und eine umfassende Erklärung der Nahtod-Erfahrung der Soziologie zumindest nicht möglich ist.
Erinnerungen an das verdrängte Nahtod-Erlebnis
Anita Schlüter hat sich mit Studien zum Thema Nahtod-Erfahrung eher wenig beschäftigt. Es ist für sie nicht wichtig. Sie glaubt. Mehr noch: Sie ist sich sicher, dass die Erfahrung, die sie gemacht hat, der Übergang in das Jenseits markiert hat. Dennoch hat das Erlebnis, das sie gemacht hat, zunächst keine Auswirkungen. Jahrelang lebt sie weiter, so wie sie es gewohnt ist. Sie arbeitet auf dem Bauernhof ihres Mannes, ist aktiv in verschiedenen Vereinen in Olfen, wird Mutter von drei Kindern und versucht, das tägliche Leben trotz ihrer Krankheit gut zu regeln. „Ich habe einfach funktioniert“, sagt sie. Von ihrem Erlebnis erzählt sie niemandem.
Erst als ihr Sohn 2009 eine schwere Operation durchmacht und ebenfalls wiederbelebt werden muss, erinnert sie sich wieder. Sie erzählt einer befreundeten Autorin und Grafikdesignerin ihre Geschichte, die anonym in dem Sammelband „Memento Mori“ erscheint. Die Geschichte gibt sie vorab ihrem Mann zu lesen. Der sagt dazu einfach nur ein Wort: „Danke.“ Danke dafür, dass sie diese Geschichte mit ihm teilt.
2011 schließlich hat Anita Schlüter aber das Erlebnis, was ihr Leben völlig verändern soll. Zum zweiten Mal soll sie dem Tod nur knapp entkommen. Auch damals geht es ihr schlecht. Sie kann kaum aufstehen, Essen und Trinken ist fast unmöglich. Selbst Waschen ist eine enorme Anstrengung. Eine erneute Operation am Darm steht an. Die Operation läuft eigentlich gut. Doch an dem Tag, als sie eigentlich entlassen werden sollte, bricht sie zusammen. Das Blut schießt aus ihr heraus. Sie bricht im Krankenzimmer zusammen. Wieder hört das Herz auf zu schlagen. Dieses Mal sieht sie ihr Leben, wie einen Film an sich vorbeilaufen. Es ist ein anderes Erlebnis. Aber auch ein schönes. Plötzlich hört sie wieder eine Stimme: „Du bleibst.“
Es ist der Pfleger, der an ihr rüttelt. „Da habe ich gemerkt, es kommt auf mich an.“ Sie will zurück - und kommt zurück. Allerdings ist dieses Erlebnis eines, was sie dazu bringt, ihr Leben zu ändern. „Ich musste mich von vielen Dingen verabschieden, sonst hätte ich das nicht überlebt“, sagt sie. Sie zieht sich aus dem Gemeinschaftsleben etwas zurück. Auch, wenn sie schrecklich Angst hat, dass man ihr das übel nehmen konnte. Doch sie weiß, dass sie muss. Um wieder Kraft zu bekommen. Sie hört mit der Arbeit auf dem Hof auf. Nimmt sich Zeit, gestaltet sich ihren Rückzugsraum und beginnt Gedichte und Geschichten zu schreiben.
Heute ist sie ein Mensch, der von innen heraus strahlt und absolut im Jetzt leben kann. „Ich habe immer die Kraft zum Leben gehabt“, sagt sie. „Aber das Leben nach 2011 ist das Leben, das lebendig ist.“ Ein Leben, das sie bewusst lebt. In dem sie nicht nur funktioniert.
„Mein Leben war so reduziert“, sagt sie. Nun möchte sie Menschen mit ihrer Geschichte Mut machen. Es ist die Geschichte einer Frau, die dem Tod zweimal ganz nahe kam, um dann noch mehr zu leben.
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