Misteln auf dem Vormarsch Schmarotzer fürs Liebesglück breiten sich aus

Misteln auf dem Vormarsch: Schmarotzer fürs Liebesglück breiten sich aus
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Fürs Küssen ist es nie zu spät. Wer es zu Weihnachten versäumt hat, sich unterm Mistelzwei zu küssen, kann das auch noch im Januar nachholen - oder auch gerne wiederholen. Das Versprechen auf Liebesglück hat kein Mindesthaltbarkeitsdatum, das im neuen Jahr verstrichen wäre. Die Musik, die das Liebesglück unter der Schmarotzerpflanze besingt, ebenfalls nicht. Aretha Franklin hat den Song „Kissing by the Mistletoe“ bereits vor über 60 Jahren aufgenommen - aber er klingt immer noch so sehnsuchtsvoll wie eh und je.

Wer es ausprobieren will, braucht nicht in Blumenläden oder auf dem Wochenmarkt nach einem Zweig zu suchen. Ein Spaziergang durchs Grüne reicht meistens vollkommen aus. Mistelzweige hängen da zwar in luftiger Höhe. Aber der alte keltische Kussbrauch sagt schließlich nichts darüber aus, ob der Zweig, unter dem sich das Paar herzt, tatsächlich am Türrahmen eines Hauses baumeln muss oder da, wo er zu Hause ist: in den zurzeit nackten Kronen von Laubbäumen. Um das Glück küssend auf die Probe zu stellen, gibt es derzeit mehr Gelegenheit denn je. Denn laut Nabu Deutschland (Naturschutzbund) ist der Baumparasit stark auf dem Vormarsch.

Fast kreisrund sind die Misteln: eine Strategie, um oben in der Baumkrone dem Wind keine große Angriffsfläche zu bieten.
Fast kreisrund sind die Misteln: eine Strategie, um oben in der Baumkrone dem Wind keine große Angriffsfläche zu bieten. © picture-alliance/ dpa/dpaweb

Als Ursachen für die Ausbreitung sehen die Nabu-Experten vor allem die unregelmäßige Pflege von Bäumen auf Streuobstwiesen. Daneben begünstigten wohl auch klimatische Veränderungen, wie lange Trockenphasen und der daraus resultierende Stress für die Obstbäume, den Vormarsch des immergrünen Baumparasiten.

„Für einige Gegenden sind Misteln inzwischen zum echten Problem geworden“, sagte Markus Rösler, Sprecher des Nabu-Bundesfachausschusses Streuobst, bereits 2017. Besonders gefährlich werde es für Bäume, die nicht rechtzeitig und regelmäßig gepflegt würden. Auch der Nabu-Stadtverband Münster klagt über eine starke Ausbreitung der Misteln im Münsterland - insbesondere in den Streuobstwiesen und in den Obstalleen: „Soll dieser Lebensraum hier weiterhin als ökologischer Baustein und als Obstlieferant erhalten bleiben, muss die Mistel in den Streuobstbeständen gezielt bekämpft werden.“ Zwar gehe es nicht etwa darum, die Mistel auszurotten, aber „sie dort in Schach zu halten, wo sie einen artenreichen Lebensraum bedroht“.

Wer beim winterlichen Obstbaumschnitt auf Misteln stößt, solle sie herausschneiden. Dafür braucht es keiner keltischen Druiden, die am sechsten Tag nach dem Neujahrsmond mit goldenen Sicheln in die Baumkronen klettern. Einfache Astsägen genügen. Durch das Gewicht der Misteln können laut Nabu Äste abbrechen und die Früchte der Obstbäume würden kleiner. Der Rat der Nabu-Experten: Wer gesunde Obstbäume wolle, müsse die Misteln herausschneiden - meistens immer wieder. Denn dass die Halbparasiten wiederkommen, sei wahrscheinlich, weil die Misteln tief in den Stamm wachse.

So dramatisch sieht Dr. Anke Bienengräber die Situation noch nicht. Die Diplom-Biologin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Biologischen-Station in Bergkamen-Heil, die für den Kreis Unna und die Stadt Dortmund zuständig ist. Zwar beobachtet auch sie, dass die runden Gebilde, die von Weitem wie voluminöse Vogelnester aussehen, häufiger anzutreffen sind - auch auf Straßenbäumen wie Linden-, aber das müsse nicht das Todesurteil für den jeweiligen Wirtsbaum sein. Es könne ihn schwächen, aber in der Regel nicht absterben lassen.

Halbschmarotzer-Pflanze fasziniert durch ihre Cleverness

Ob sie auch schon mal unter dem Mistelzweig geküsst hat? Anke Bienengräber lacht. Als Wissenschaftlerin sei sie für solche romantischen Bräuche einfach verdorben. Statt mit den mystischen Besonderheiten der Pflanze setzt sie sich lieber mit ihren biologischen auseinander, die sie mindestens genauso faszinierend findet.

Misteln lassen sich durch ihren Wirt - also die Pappel oder der Obstbaum - mit Wasser und Nährstoffen versorgen: allem, was sie brauchen, um fit und gesund zu sein. Dafür haben sie spezielle Saugorgane, sogenannte Haustorien, wie Bienengräber erklärt. Bei Misteln bestehen diese aus umgebildeten Wurzeln. Dass es sich bei der Pflanze nur um einen Halbparasitzen handelt und nicht um einen kompletten Schmarotzer, hat einen Grund: Die Mistel hat voll ausgebildete grüne Blätter und kann selbst Fotosynthese betreiben, also mithilfe von Licht energiearme Stoffe in energiereiche umwandeln. Vollschmarotzern hingegen fehlt der Blattfarbstoff Chlorophyll.

Blüten und Beeren: Besonders auffällig an nackten Bäumen

Anke Bienengräber findet die Mistel clever - auch weil sie ein besonderes Zeitfenster nutzt. Sie blüht schon im März, ihre silbrigen Beeren reifen aber erst im Dezember – beides also zu Zeiten, wenn die Bäume kahl sind. Um von Insekten, die bestäuben, und Vögeln, die sie fressen und durch ihren Kot verbreiten, gefunden zu werden, sei das ideal, sagt Bienengräber.

Zahlreiche Vogelarten haben ihre Beeren auf dem Speiseplan, allen voran die Misteldrossel. Und wieder verblüfft die Pflanze durch eine clevere Strategie: Ihre Früchte sind extrem klebrig. Ein Teil von ihnen bleibt am Vogelschnabel regelmäßig hängen. Das weckt das Bedürfnis der Vögel, ihre Schnäbel an einem Zweig zu wetzen. Dabei säen sie nebenbei die Mistelsamen aus in der Rinde des künftigen Wirtsbaums. Über Vogelkot, der auf Bäume fällt, funktioniert das ebenfalls.

Cleverness sagt die christliche Legende der Mistel nicht gerade nach, dafür fromme Scham. Laut dieser Überlieferung war die Mistel früher ein Baum. Aus seinem Holz sei das Kreuz gezimmert gewesen, an dem Christus starb. Vor lauter Scham darüber soll sich die Mistel daraufhin in den holzlosen Baumparasiten verwandelt haben. So christlich sind allerdings die wenigsten Geschichten, die sich um die Mistel ranken. Denn lange vor dem Christentum hatte die Mistel schon in den nordischen Göttersagen ihre besondere Rolle begründet - und die Tradition mit dem Küssen.

Wie die Liebesgöttin Frigga um ihren Sohn kämpft

Der böse Gott Loki hatte danach den Plan geschmiedet, Balder zu töten: den Sohn der Liebesgöttin Frigga. Die Mutter erfuhr davon und befahl jedem Tier und jeder Pflanze, nicht dabei zu helfen, dass ihrem Sohn Leid zugefügt werde. Nur die Mistel, die weit über der Erde wächst, hatte sie übersehen und nicht darauf eingeschworen, So wurde Balder mit einer Pfeilspitze aus diesem Zweig getötet. Es heißt, dass die Tränen, die Frigga um ihren Sohn vergoss, sich in die weißen Beeren des Mistelzweiges verwandelten. Die Geschichte hat aber ein Happyend; Frigga schaffte es, Balder zurückzuholen ins Leben: ein Grund für sie, jeden zu küssen, der unter dem Baum entlang ging, in dem der verhängnisvolle Mistelzweig gewachsen war.

Die Mistel kann also verletzten, und sie kann heilen - nicht nur in der Sage, sondern auch im echten Leben, wie Anke Bienengräber weiß. Sowohl für Menschen als auch für Tiere sind die Blätter und Stängel der Mistel gering giftig, Nicht die daraus resultierende Gefahr, sondern die Heilkräfte machen sich Menschen seit jeher zu Nutze - auch in Krebsmitteln, die das Tumorwachstum beeinflussen sollen. Schon Hildegard von Bingen empfahl die Mistel im 12. Jahrhundert bei Lebererkrankungen und erfrorenen Gliedmaßen und Sebastian Kneipp 700 Jahre später zur Behandlung von Epilepsie. Was wirklich hilft, weiß die Mitarbeiterin der Bio-Station nicht. Das Küssen zumindest, kann nicht schaden.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist zum ersten Mal im Januar 2022 erschienen. Wir haben ihn jetzt erneut veröffentlicht.

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