Lion (4) aus Selm hat Leukämie Seine Oma Jasmina Dinter darf ihn nicht in den Arm nehmen

Lion (4) aus Selm hat Leukämie: Seine Oma darf ihn nicht in den Arm nehmen
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Es fing harmlos an. Im Kindergarten stieß der vierjährige Lion aus Selm mit einem anderen Jungen zusammen. Seine Nase blutete, doch die Blutung hörte nicht auf – eine Stunde lang. Nachdem seine Mutter mit ihm in die Kinderklinik nach Datteln fährt und ein Blutbild gemacht wird, steht schnell fest: der Vierjährige hat Leukämie, auch Blutkrebs genannt, des Typs ALL.

„Lion ist ein aufgewecktes Kind“, sagt seine Oma Jasmina Dinter (48). Die Selmerin ist selbst Fachaltenpflegerin und auch als Horrorschwester des Ruhrgebietes bekannt. So macht sie immer wieder auf Missstände in den Pflegeberufen aufmerksam.

Bei Lion ist sie aber in erster Linie Oma. Der Vierjährige spielt gerne mit Lego, hört Geschichten auf seiner Toniebox und hat eine eigene Katze. „Was Kinder in dem Alter eben so machen“, sagt sie. „Und er erzählt gerne.“ Eigentlich wollte Lion in diesem Jahr auch zum ersten Mal mit seiner Oma zum Karneval, oder wie er sagt „Karnebal“.

Anruf aus der Kinderklinik

„Auch wenn es makaber klingt, eigentlich müsste man dem anderen Kind eine Freude machen“, sagt Jasmina Dinter: „Es war ein Zufallsfund.“ Wann die schwere Krankheit sonst entdeckt worden wäre, bleibt unklar.

Als ihre Tochter Jasmina Dinter aus der Kinderklinik anruft, unterbricht sie sofort ihren Dienst im Lüner Krankenhaus. Da stand die Diagnose zwar noch nicht fest, aber Jasmina Dinter ahnt: „Ich muss sofort los.“

Gemeinsam mit Lions anderer Oma macht sie sich auf den Weg. Während der Fahrt zählt sie zusammen, was sie vorher nicht verknüpfte: Lion war oft blass, bekam schnell blaue Flecken, war häufig schwach auf den Beinen und hatte immer mal wieder Nasenbluten. „Wer denkt denn an Leukämie? Aber da wurde es mir klar“, sagt sie.

Ein Blutbild in der Kinderklinik zeigt, dass die Zahl der Thrombozyten ins Lions Blut 200-fach erhöht ist. Diese Blutplättchen sorgen eigentlich dafür, dass das Blut gerinnt und sich Wunden schließen. Deshalb hörte Lions Nase nicht auf zu bluten.

Das war am 18. Juli. Von einem Tag auf den anderen ändert sich das Leben der gesamten Familie. Denn mit der Chemotherapie kann nicht gewartet werden. Zu schlecht steht es um Lion.

Harte Chemotherapie

Der Tagesablauf ist seitdem jeden Tag ähnlich. Meist geht es schon am Vormittag für den Vierjährigen und seine Eltern zur Chemotherapie nach Datteln. Vier oder fünf Stunden lang laufen Chemo-Medikamente in seinen Körper. Wenn Lion anschließend wieder nach Hause kommt, ist er davon so erschöpft, dass er erst mal schlafen muss. Danach gibt es Mittagessen, denn der Vierjährige hat Hunger. „Wir alle haben jetzt vier Tage lang Fischstäbchen gegessen“, sagt Jasmina Dinter. Wie solle die Familie Lion denn gerade etwas abschlagen?

„Ich weiß nicht, ob Lion Angst hat“, sagt seine Oma. Aber er habe Schmerzen. Und Lion verstehe, dass er sehr krank sei. „Es ist schlau und weit für sein Alter, auch wenn das wohl jede Oma von ihrem Enkel denkt“, sagt sie.

Er darf nicht mehr in den Kindergarten gehen und nicht mehr auf den Spielplatz. Wenn seine Mutter – die rund um die Uhr an seiner Seite ist – mit Lion vor die Tür geht, muss sie ihn vor anderen Menschen abschirmen. Selbst im eigenen Garten darf der Vierjährige nur alleine spielen. Mit einer Ausnahme: Lion durfte sich einen Freund aus dem Kindergarten aussuchen, der ihn ab und zu besuchen darf. Allerdings nur in Phasen, in denen es ihm verhältnismäßig gut geht. Wenn Jasmina Dinter diesen Freund ihres Enkels beim Einkaufen in Selm zufällig trifft, erkundigt der sich nach Lion.

Gefahr durch Schimmel

Auch im Kindergarten sei darüber gesprochen worden, dass der Vierjährige schwer krank ist. Sein Platz wurde gleich neu vergeben. Beides sei richtig, findet Jasmina Dinter. Eine Chemotherapie bei Kindern dauert zwischen sieben Monaten und zwei Jahren. Falls Lion eher wieder zurückkomme, würde sich ein Platz für ihn finden. Bis dahin ist es aber noch ein weiter und harter Weg.

Auch weil der Vierjährige gerade besonders anfällig ist. Schon beim geringsten Verdacht auf eine Infektion innerhalb der Familie begibt sich das jeweilige Familienmitglied in Isolation und trägt nur noch Mundschutz. Alle zusammen versuchen so gut es geht, den Kleinen abzuschirmen. Auch seine Oma muss Abstand halten, darf den Vierjährigen nicht in den Arm nehmen. „Das ist schwer“, sagt sie. Das Maximum ist gerade ein Kuss auf den Fuß.

Lions Kette aus der Kinderklinik
An einer kleinen Kette verewigt die Kinderklinik Datteln die Fortschritte des vierjährigen Lion. © Privat

Man werde die Umgebung zu Hause zwar nie komplett steril halten können, aber zumindest keimarm sollte sie sein. Deshalb staubsaugt Jasmina Dinter nicht nur einmal pro Tag, sondern viermal. Sagrotan gehört gerade zu ihren größten Helfern.

Doch es gibt ein Problem. Die Wohnung, in der Lion, seine Mutter und ihre beiden Katzen leben, ist nicht die neuste. An den alten Holzfenstern schimmelt es, weil die Vormieter sie überstrichen haben. Für alle Menschen unschön, für Lion lebensgefährlich. „Eine Schimmelspur und ein Kind mit Leukämie kann daran sterben“, sagt Jasmina Dinter. Sie vermietet die Wohnung an ihre Tochter.

5000 Euro gesammelt

Die Fenster müssen so schnell es geht ausgetauscht werden, damit Lion hier leben kann. Aktuell schlafen er und seine Mutter im Arbeitszimmer von Jasmina Dinter. „Gerade ist es kein Zustand“, sagt sie. Doch auf die Schnelle vier neue Fenster kaufen, dafür fehlt der 48-Jährigen das Barkapital.

Deshalb startete sie auf der Online-Plattform Gofundme einen Spendenaufruf mit dem Namen „Der kleine Löwe kämpft um sein Leben“. Dabei fiel es ihr schwer, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Sie wolle sich nicht beschweren: „Anderen geht es noch viel schlechter.“ Warum sie sich trotzdem nur vier Tage nach Lions Diagnose dazu durchgerungen hat? „Die Familie, das Wohl der Familie.“

In rund zehn Tagen sammelte sie so schon fast 5000 Euro. „Ich kenne alle Menschen, die gespendet haben“, sagt Jasmina Dinter. Die meisten seien Kolleginnen und Kollegen aus dem Gesundheitssektor aus ganz Deutschland, die sie für ihr Engagement schätzen. Aus Selm seien bisher eher weniger Spenden eingegangen. Dafür bekam sie aber Hilfe aus dem eigenen Umfeld. Der Mann ihrer besten Freundin, der Selmer Dachdecker Sascha Volle, wird ihr die Fenster einbauen, ohne dass sie für den Einbau zahlen muss. Sascha Volle erzähle Lions Geschichte auch beim Einkauf der vier Fenster und statt 6500 Euro muss Jasmina Dinter bei der Firma DEG nur 3500 Euro zahlen.

Die 5000 Euro reichen also bereits, um die neuen Fenster einzubauen, auch wenn das noch etwas dauert. Doch damit nicht genug: „Auch die Tapete muss noch runter“, sagt Jasmina Dinter: „Schimmel macht ja keinen Halt.“ Sie fürchtet aber, dass noch mehr Kosten auf die Familie zukommen werden.

Große Sorgen bleiben

Dass sie selber in der Medizin arbeitet, sei Fluch und Segen zugleich. Die gelernte Fachaltenpflegerin versucht ihrer Tochter auch nicht reinzureden. „Zum Glück gibt es eine klare Therapieleitlinie“, sagt sie. Außerdem versucht sie nicht zu viel von dem zu lesen, was die behandelnden Ärzte schreiben. Denn dann beginne das Kopfkino.

Jasmina Dinter versuchte in den vergangenen Tagen vor allem zu funktionieren. Andere Schwierigkeiten werden plötzlich ganz klein. „Man versucht andere Probleme auszublenden“, sagt sie. Genau wie ihre Tochter zeige sie ihre Gefühle nicht nach außen. Auch im Kontakt mit der 27-Jährigen versuche sie, sich selbst zurück zu nehmen. „Es geht hier nicht um mich“ Trotzdem macht sie sich unentwegt Gedanken: „Ja, fast 90 Prozent schaffen es mit der Chemo, aber was, wenn unser Kind zu den anderen 10 Prozent gehört?“

Doch es gibt auch Lichtblicke. Von der Kinderklinik bekam Lion ein Band, auf dem die kleinen Erfolge des Vierjährigen gezeigt werden. Hier ein kleines Zeichen für eine erfolgreiche Blutwertkontrollen, dort ein Rettungswagen im Miniformat für eine Blaulichtfahrt, denn die Rettungskräfte machten für Lion extra das Blaulicht an. Dass hat er sich „schon immer immer“ gewünscht. „Wir wollen kein Mitleid, Mitgefühl reicht“, sagt seine Oma.

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