Früher wurden Menschen auf dem Kirchplatz bestattet. Heute wünschen sich manche, neben ihrem Hund begraben zu sein. Ein Blick ins Selmer Stadtarchiv zeigt den Wandel der Bestattungskultur.

Selm

, 18.02.2019, 05:08 Uhr / Lesedauer: 5 min

Dass sich irgendetwas in Sachen Bestattung grundlegend verändert hatte, wurde den Selmern spätestens im Jahr 1959 klar. Damals schaffte die Stadt sich ein Sargversenkungssystem an. Modell A, Preis 572 Mark. Und dann war da auch noch die Sache mit der Leichenhalle.

Die Stadt hatte eben jene Leichenhalle gerade erst neu errichtet. Sie entsprach allen technischen Voraussetzungen der Zeit und so fragte ein Mitglied des Friedhofsausschusses, ob es nicht an der Zeit sei, endlich auch alle Menschen in der Halle aufzubahren. „Da aus hygienischen Gründen die Aufbahrung in den Wohnungen nicht mehr zu vertreten sei“, heißt es aus Unterlagen der Sitzung aus dem Jahr 1959. Außerdem diskutierte der Ausschuss darüber, die Beerdigungen nur noch ab der Friedhofshalle zuzulassen. Sprich: es sollte keine Leichenzüge mehr geben. Und zwar aus verkehrstechnischen Gründen.

Der alte Weg gegen den neuen Weg, dargestellt in einem Werbeprospekt, die Stadt kauft 1959 das Sargversenkungsgerät Pietas zum Preis von 572 Mark. „Wird das Leben auch im Tod unpersönlicher?“, heißt es in einem Zeitungsartikel in Reaktion auf die neue Leichenhalle und das Gerät.

Der alte Weg gegen den neuen Weg, dargestellt in einem Werbeprospekt, die Stadt kauft 1959 das Sargversenkungsgerät Pietas zum Preis von 572 Mark. „Wird das Leben auch im Tod unpersönlicher?“, heißt es in einem Zeitungsartikel in Reaktion auf die neue Leichenhalle und das Gerät. © Stadtarchiv Selm, Repro: Geschwinder

Keine Verbeugung vor der Vergangnheit

„Es wird anerkannt, dass auch hier in Selm in manchen Familien die Aufbahrung der Toten wegen der Enge der Wohnungen Schwierigkeiten bereitet“, schreibt der Heimatverein an den damaligen Bürgermeister Wilhelm Liebetrau (SPD). Weiter heißt es: „Durch die Leichenzüge wird der Verkehr auf der Ludgeristraße kaum noch gestört. [...] Alle Straßen in Selm unterliegen nur zeitweise einem stärkeren Verkehr und Leichenzüge bewegen sich auch nicht täglich durch die Straßen.“

Der Rat diskutiert und entscheidet: „Es bleibt alles beim Alten“, heißt es in der Sitzungsniederschrift vom 1. August 1960. Das heißt: kein Zwang zur Leichenhalle und kein Verbot für die Leichenzüge. Und trotzdem ist die Entscheidung nicht der Verbeugung vor der Vergangenheit geschuldet, sondern der Realisation, was die Zukunft bringen wird: „Es ist deutlich erkennbar, dass die Leichenhalle in immer stärker werdenden Maße - freiwillig - in Anspruch genommen wird.“ Und so kam es.

Der Tod in der Mitte der Gesellschaft

Ein Ort, der für die Veränderungen in der Bestattungskultur steht, ist beispielsweise die Friedenskirche in der Altstadt. Bei Arbeiten für eine Fußbodenheizung im Jahr 1993 fanden sich hier menschliche Skelette. Ein Indiz dafür, dass die Kirche - deren Ursprünge sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen lassen und die im Jahr 1530 nach einem Brand neu errichtet wurde - eine Begräbnisstätte für Pfarrer war. Wer kein Pfarrer war, lag aber auch im Mittelalter nicht weit von der Kirche entfernt. Der Kirchhof war damals der Friedhof, kreisförmig um die Kirche angelegt, wie es im Heimatbuch der Stadt Selm heißt. Die Kirche stand im Mittelpunkt des Lebens und des Sterbens.

Und so war auch der Tod allgegenwärtig im Leben der Verstorbenen. Daran hatten auch Krankheiten ihren Anteil. So forderte die große Pestepidemie zwischen 1357 bis 1352 in Europa insgesamt 25 Millionen Opfer, ein Drittel der gesamten damaligen Bevölkerung.

Der Weg weg von der Kirche zeichnete sich dann erst zu Zeiten der Reformation (1517 bis 1648) ab. Damals wurden die Friedhöfe oftmals vom Stadtkern vor die Tore der Stadt verlegt. Das hatte unter anderem hygienische Gründe. Die Leichengifte, die sich durch die Massengräber bildeten, sollten schließlich nicht ins Wasser gelangen und zur Gefahr für die Lebenden werden.

Diese Entwicklung verstärkte sich während der Zeit der Aufklärung (etwa 1700 bis 1800). Zum einen, weil die Bedeutung der Kirche abnahm, zum anderen aber auch, weil die Bevölkerungszahlen weiter anwuchsen.

Wohin mit den Toten?

Auch in Selm spielte der Faktor Platz eine Rolle. Bis 1830 wurde in Selm um die alte Kirche herum bestattet, wie es im Heimatbuch heißt, „weil der Platz verhältnismäßig klein ist, muss man auch hier mit Überbestattungen rechnen.“ Überbestattungen waren jedenfalls nicht ungewöhnlich und mit dem geringen Platzangebot bildeten sich kreative Arten der Bestattung. Im nahen Seppenrade fand man 1882 beispielsweise bei Ausschachtungsarbeiten in 3,5 Metern Tiefe einen Leichnam, der in einem ausgehöhlten Baumstamm beerdigt worden war.

So entstand 1823 der erste kommunale Friedhof der Gemeinde Selm, nicht mehr direkt am Kirchplatz gelegen, aber auch nicht zu weit weg: Am Krummen Kamp, an der Straße, die sich heute „Breite Straße“ nennt. Fast 100 Jahre war der Friedhof in Betrieb, ehe er 1911 vom Friedhof an der Funne abgelöst wurde. Danach verfiel er zusehends. Heute befinden sich dort Privatgrundstücke und ein Kinderspielplatz.

Heute steht auf dem Gelände unter anderem ein Spielplatz. Damals standen dort noch verfallene Gräber: Der erste Selmer Kommunalfriedhof in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1959.

Heute steht auf dem Gelände unter anderem ein Spielplatz. Damals standen dort noch verfallene Gräber: Der erste Selmer Kommunalfriedhof in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1959. © Stadtarchiv Selm, Repro: Geschwinder

Zwar ist auch der Friedhof an der Funne nicht allzuweit von den Kirchen der Altstadt entfernt. Dennoch: Dass Friedhöfe nicht mehr selbstverständlich zum Leben der Menschen dazugehören, zeigt zum Beispiel eine Bemerkung in den „Ergänzungen zum Heimatbuch Selm“ (1975 vom Heimatverein herausgegeben). Dort heißt es zum Friedhof an der Funne: „Von vielen Bewohnern wird der Friedhof als Erholungsstätte angesehen, wo viele Bänke unter schattigen Bäumen zum Ausruhen einladen. Bis hierhin dringt nicht der Lärm der Straße und die Luft ist frei von giftigen Abgasen der Autos. Viele Menschen meiden den Friedhof als Erholungsstätte. Selm ist aber arm an solchen Plätzen zum stillen Verweilen, und so sollte man die Scheu vor einem Gang zum Friedhof nicht haben.“

Die Kirchturmspitze der Ludgerikirche ist vom Friedhof aus zu sehen

Die Kirchturmspitze der Ludgerikirche ist vom Friedhof aus zu sehen © Sabine Geschwinder

Wandel der Gesellschaft macht auch vor Friedhof nicht halt

„Die Bestattungskultur ändert sich ebenso wie sich die Gesellschaft verändert“, sagt Norbert Fischer. Der Professor lehrt an der Universität Hamburg und forscht schon seit mehr als 30 Jahren zum Thema Friedhof und Veränderung der Bestattungskultur.

Seit dem späten 19. Jahrhundert präge die Aschebeisetzung die Bestattungskultur immer stärker, so Fischer. Außerdem habe der Friedhof heute sein Monopol als Bestattungs- und Erinnerungsort verloren. Stattdessen gebe es immer mehr Orte, die als Ort der Trauer dienen. Zum Beispiel Unfallgedenkstätten am Wegesrand oder auch Gedenkseiten im Internet. Auch Seebestattungen und Bestattungen in Wäldern gewinnen immer mehr an Bedeutung.

„Bestattung am Friedhof setzt voraus, dass zur Grabpflege jemand da ist“, sagt Fischer. So sei der Verlust der Bedeutung des Friedhofs auch das Kennzeichen einer mobilen Gesellschaft - und vielleicht der völligen Neuordnung der Bedeutung des Friedhofs. „Der Friedhof ist ein schöner Ort, der sich in den nächsten Jahrzehnten stark verändern wird“, sagt Fischer. Beim größten Parkfriedhof der Welt in Hamburg-Ohlsdorf werden beispielsweise die Bestattungsfläche wegen des geringeren Bedarfs verringert werden, um sie anderweitig nutzbar zu machen.

Auch in Selm geht der klare Trend „in den vergangenen Jahren dazu, ein Urnengrab zu nehmen“, wie Stadtsprecher Malte Woesmann sagt. 42 Prozent aller Bestattungen wurden 2018 als Urne beigesetzt. 2015 waren es noch knapp 34 Prozent gewesen. Das Rasenreihengrab und das Wahlgrab waren mit jeweils rund 18 Prozent am zweitbeliebtesten im Jahr 2018.

„Der Tod ist ein stückweit ein Randthema“, ist Selms Pfarrer Claus Themann überzeugt. „Das liegt daran, dass der Tod früher präsenter war in den Familien, zum Beispiel dadurch, dass mehrere Generationen unter einem Dach wohnten.“ Das Rad zurückdrehen möchte er nicht. Er sagt: „Es geht darum, das Trauern so zu gestalten, dass es zu den Lebensbedingungen passt.“ Wer aber dem Tod nicht aus dem Weg gehen könne, habe vielleicht die Möglichkeit, sein Leben bewusster zu leben.

Beerdigungen in Selm: So viele Beerdigungen gab es in den vergangenen Jahren laut Stadt auf den Friedhöfen in Selm, Bork und Cappenberg (Zahlen des Friedwaldes sind darin nicht enthalten): 2015: 308, 2016: 276, 2017: 305 und 2018: 280 Auf allen drei Friedhöfen sind unterschiedliche Bestattungsformen möglich. Dies sind unter anderem: Wahlgrab, Reihengrab, Anonymes Grab, Rasenreihengrab, Urnenwahlgrab, Urnenreihengrab, Anonymes und teilanonymes Urnengrab, Baumbestattung.

Bestattung von Mensch und Tier

Noch sind Friedhöfe nötig, weil es in Deutschland - anders als im Rest von Europa, mit Ausnahme von Griechenland und Teilen Österreichs - nach wie vor eine Bestattungspflicht gibt. Fällt die irgendwann weg, könnte der Leichnam - wie in anderen Ländern schon möglich, in einer Urne auf dem Kaminsims aufbewahrt oder zu einem Diamanten gepresst werden.

Schon jetzt reagieren einige Friedhofsbetreiber auf die gesellschaftlichen Veränderungen: „Das sieht man zum Beispiel daran, dass es in Deutschland weit über 100 Tierfriedhöfe gibt“, erklärt Fischer. Die Grabsteine, die den Tieren dort gewidmet seien, seien mitunter sehr bewegend und zeigten, welch einen wichtigen Stellenwert Tiere für manche Menschen eingenommen haben. Auf dem Zentralfriedhof in Wien werden sogar Bestattungen für Mensch und Tier angeboten, in Hamburg-Ohlsdorf wird ein solches Angebot geplant. In Essen liegt das Projekt derzeit wegen Widerstandes der Landeskirche auf Eis.