Alle, die schon einmal einen lieben Menschen verloren haben, kennen solche Erinnerungen: etwa an den Moment, als sie von der schlimmen Diagnose erfuhren, oder an den, als sie für immer Abschied nahmen. Selbst nach Jahren lässt so ein Blick zurück oft wieder Tränen in die Augen steigen. Manchmal gesellt sich aber auch ein wehmütiges Lächeln hinzu angesichts der noch gemeinsam verbrachten Zeit. Als Doris Krug die Erinnerung an das Sterben ihres Vaters vor 32 Jahren in Erinnerung ruft, berührt das nicht nur sie. Ihre Trauergeschichte hat etwas in Selm, Olfen und Nordkirchen verändert. Zum Besseren, auch für alle, die Doris Krug und ihre Familie gar nicht kennen.
„Mein Vater erkrankte 1991 unheilbar an Krebs.“ Der Satz ist kurz und sachlich. Und damit ganz anders als das, was er beschreibt: ein Chaos der Gefühle und Monate langes Leid. Es war das erste Mal, dass das Thema Sterben und Tod in Doris Krugs Leben trat. Die Diplom-Sozialpädagogin war damals Anfang 30. Sie und ihre Familie reagierten so, wie es damals üblich war: schweigend. „Die Erkrankung, die zum Tod führen sollten, und das Sterben wurden nicht offen thematisiert.“ Palliativmedizin war noch ein Fremdwort. Und das offene Gespräch zwischen behandelndem Arzt und Patient die Ausnahme.
„Damals“, sagt Doris Krug, „wurde den Betroffenen die Diagnose nicht mitgeteilt, lediglich den Angehörigen.“ Wieder so ein lakonischer Satz. Er lässt nur annähernd vermuten, wie groß die Belastung der Angehörigen war, mit diesem Wissen umzugehen. Und es mit dem Betroffenen zu teilen. Oder auch nicht. Ihrer Mutter, sagt Krug, habe das wahnsinnig zugesetzt: eine schreckliche Überforderung für sie wie auch für jeden anderen in einer vergleichbaren Situation.
Gespräch mit Patienten
Über 30 Jahre später gehen Ärztinnen und Ärzte zwar direkt auf die Betroffenen zu. Die notwendige, aber schwierige Kommunikation ist aber immer noch kein Pflichtfach im Studium. Immerhin: Das Problem ist erkannt. Inzwischen liegt ein Referentenentwurf des Gesundheitsministeriums vor, der eine entsprechende Überarbeitung des Curriculums vorsieht. Mit dieser Verbesserung hat Doris Krug nichts zu tun. Mit einer anderen schon. Oder vielmehr: Ihre kleinen Töchter hatten damit zu tun.
Die eine war damals vier Jahre alt, die andere fünfeinhalb: beide damit in einem Alter, in dem sie noch nicht wirklich realisieren können, was der Tod bedeutet. Vor- und Grundschulkinder verfügen noch über einen inneren Schutz vor Überbeanspruchung in der Ausnahmesituation, die jeder Todesfall bedeutet.
Kinder trauern anders
Sie trauern gleichsam auf Raten. Ganz plötzlich bricht die Trauer aus ihnen heraus und wirft sie weinend zu Boden, und im nächsten Augenblick springen sie wieder auf und lachen. „Sie gingen mit dieser Situation natürlich und selbstverständlich um“, sagt Doris Krug. Für sie sei das damals ein großer Trost gewesen. Und Anlass, zu dem Thema Seminare durchzuführen. Im Jahr 2002 - Krug war inzwischen Leiterin der Familienbildungsstätte Selm - ging sie noch einen Schritt weiter. Sie organisierte einen Informationsabend in Selm, der Wellen schlug. Und Wirkung zeigte.
Doris Krug hatte die Koordinatorin des ambulanten Hospizdienstes Nottuln nach Selm eingeladen. Hospiz? Das Wort musste um die Jahrtausendwende noch erklärt werden: Dass es sich nicht um eine dieser Herbergen handelt, die vor 1500 Jahren entlang von Pilgerrouten in ganz Europa entstanden waren. Dass es gar kein Ort ist, „sondern eine Haltung, mit der wir uns begegnen“. So hatte es Cicely Saunders, die Begründerin der modernen Hospizidee es ausgedrückt. Es gehe darum, sicherzustellen, dass sterbenskranke Menschen auf ihrem letzten Weg ihren Wünschen entsprechend versorgt und begleitet werden. Etwas, das angesichts der neuen Möglichkeiten der Medizin aus dem Blick geraten war, wie die englische Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin befand. Mitte der 1980er-Jahre begann ihre Idee auch in Deutschland Gehör zu finden. Dass daraus eine Bürgerbewegung wachsen würde, war aber noch nicht abzusehen. Auch nicht 2002 von Doris Krug. Zumindest nicht zu Beginn des Informationsabends.

Nach dem Ende vielleicht schon. Die Besucherinnen und Besucher wollten nach dem Vortrag gar nicht auseinandergehen. Sie diskutierten, erzählten von ihren eigenen Erfahrungen mit Angehörigen, die einsam im Krankenhaus oder im Pflegeheim starben. Und sie beschlossen noch am selben Abend, etwas dagegen zu tun: Die Idee, einen eigenen Hospizdienst zu gründen, war geboren. Das Motto „Leben im Sterben: Sterben leben“ war gefunden. Und das doppelte Ziel formuliert: „das Sterben lebenswert zu gestalten und gleichzeitig Sterben und Tod in das Bewusstsein der Menschen zu bringen“. Bei der Theorie blieb es nicht.
Der Hospizdienst, dem inzwischen auch Olfen und Nordkirchen angehören, hat 2023, also 20 Jahre nach der offiziellen Gründung, 320 Mitglieder, eine dienstags bis freitags geöffnete Geschäftsstelle an der Kreisstraße in Selm und vor allem qualifizierte, ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht nur mit Schwerstkranken und Sterbenden Zeit verbringen, ihnen zuhören und deren Gefühle aushalten, sondern die sich auch um die Angehörigen kümmern: ein Angebot, das kostenlos ist für die Betroffenen. Doris Krug, inzwischen Rentnerin, lächelt. So schmerzhaft die Erinnerung an das Sterben ihres Vaters auch ist. Diese Erfahrung hat etwas Gutes bewirkt.
- Was? Anlässlich des Geburtstags des ambulanten Hospizdienstes für Selm, Olfen, Nordkirchen gibt es am Mittwoch (4.10.), ab 18.30 Uhr im Bürgerhaus Selm eine Diskussionsveranstaltung zum Thema „Hospizlich-palliativmedizinische Begleitung versus assistierter Suizid“.
- Wer? Mit dabei sind die Selmer Hausärztin und Vorsitzende der Hospizgruppe. Dr. Antje Münzenmaier, der Chef der Palliativmedizinischen Abteilung des Krankenhauses Unna, Dr. Boris Hait, die Hessische Notfall-Seelsorgerin und Autorin Heinke Geiter und der Hamburger Fachanwalt für Medizinrecht, Hochschullehrer und Autor.
- Wie teuer? Der Eintritt frei ist, Spenden für die Ukraine-Hilfe in Unna und die Hospizarbeit in Selm, Olfen, Nordkirchen sind willkommen.

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