Ende des Jahres ist Schicht. Dann geht auf der letzten deutschen Zeche das Licht aus: 92 Jahre nach dem Aus für die Zeche Herrmann. Dennoch hat der Bergbau in Selm nie seinen Glanz verloren.

Selm

, 23.09.2018, 06:03 Uhr / Lesedauer: 5 min

Von wegen: Glück auf! Im Moment des feierlich besiegelten Glücks zu zweit, schaut niemand nach oben unter die Decke. Da ist sich Christel Melis ganz sicher. Die Paare, die sie als Selmer Standesbeamtin verheiratet, hätten nur Blicke füreinander. Und vielleicht noch für die im Ratssaal des alten Amtshauses versammelte Hochzeitsgesellschaft. Aber keinesfalls für den einsamen Bergmann, der einen halben Meter über ihnen schwebt. „Die meisten nehmen ihn nicht einmal wahr.“

Reglos auf einen Stock gestützt

Das scheint ihn nicht weiter zu bekümmern. Er hat sich zwar passend für den festlichen Anlass herausgeputzt: schwarzer Bergmannskittel mit breitem Schulterkragen und Schachthut – alles völlig unbrauchbar für die Arbeit im heißen, feuchten Stollen unter Tage. Aber von dem Getue zu seinen Füßen nimmt er keine Notiz – schon seit seiner Ankunft vor mehr als 100 Jahren. Stattdessen stützt er sich reglos auf seinen Stock, einem Steigerhäckel, das nur Aufsichtspersonen zusteht, und starrt nach draußen – vorausgesetzt, jemand hat die Doppeltüren zum mächtigen Treppenhaus geöffnet. Doch so sehr er auch die Landschaft im Norden absucht: Den Förderturm von Zeche Herrmann, seine Heimat, kann er nirgends entdecken – schon seit 1926 nicht mehr.

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Die Geschichte der Zeche Hermann in Selm

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20.09.2018
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„Wir wissen nicht viel über ihn“, sagt Malte Woesmann. Der Sprecher der Stadtverwaltung hat sein Büro am Ende des Flurs, nur ein paar Schritte vom traurigen Kumpel entfernt. Den meint Woesmann aber gar nicht, sondern den stählernen Leuchter, auf dem die Figur steht: zwei wuchtige, kunstvoll verzierte Metallringe, an denen zwölf Lampen befestigt sind. „Der wurde in der Schmiede der Zeche hergestellt.“ Wo sonst der Hammer grobes Eisen formte, entstanden detailverliebte Ornamente: sprechende Fische, grinsende Stiere, geflügelte Boten und Schlägel und Eisen: das Symbol für den Bergbau.

Wie, um ihrem Werk die Krone aufzusetzen, haben die unbekannten Künstler der Zeche einen Bergmann oben darauf platziert: einen von ihnen. Auf dass die Ratsmänner im neuen Amtshaus nicht vergessen, wem sie Größe und Einfluss zu verdanken haben.

Aus dem Bauerndorf wurde eine Stadt

1905 hatte Selm 1756 Einwohner, 1912 – dem Jahr, in dem das Amtshaus fertiggestellt wurde – sind es 7117 Einwohner, Tendenz steigend. Der Grund für den rasanten Aufschwung: vermutete Steinkohlevorkommen von 380 Millionen Tonnen. Ein Schatz, den Bergarbeiter von weit und breit helfen wollen, ans Licht zu holen. Die Schächte I und II in Beifang entstehen, die Zechengebäude, die erste Kolonie mit hunderten von Bergarbeiterwohnungen und eine Ziegelei, um Steine für all die Neubauten zu brennen, die wie Pilze aus dem plötzlich so kostbaren Boden schießen. 1909 werden die ersten Kohlen gefördert. Die Bauverwaltung des Kreises Lüdinghausen hat da schon abgewunken.

Sie kann die Flut der Anträge längst nicht mehr bewältigen. Das für Selm, Bork und Altlünen zuständige Amt Bork braucht eine eigene Bauverwaltung. In einem neuen, deutlich größeren Amtshaus. Architekt Karl Schulte aus Dortmund, der in Selm auch schon Zeche und Kolonie geplant und mit seinem Bruder Dietrich gebaut hat, plant den neubarocken Bau an der Verkehrsader zwischen Selm und Lünen.

Zeichen des Bergbaus finden sich in dem Leuchter viele.

Zeichen des Bergbaus finden sich in dem Leuchter viele. © Foto: Sylvia vom Hofe

Die Inneneinrichtung ist eher nüchtern und zweckmäßig – bis auf den Ratssaal, dessen Balkon auf den Vorplatz herausführt: dunkle Vertäfelung, passendes Gestühl, ein Kamin mit Delfter Kacheln und Fenster, die bemalt sind mit Motiven aus der Region: das Sägewerk Moll und Co. aus Altlünen, das als erstes nördlich der Lippe Dampfkraft nutze, die Westfalia-Hütte ebenfalls in Altlünen und der Hof Schulze Wischeler aus Cappenberg, der auf eine Tradition bis ins Jahr 1122 zurückblickt.

Ausstieg aus Steinkohlebergbau

So richtet sich eine Verwaltung ein, die stolz ist auf die Region und auf ihre industrielle Veränderung, die gerade passiert. Weder die Ratsmänner noch die Bergleute ahnen zu diesem Zeitpunkt, dass sich der Aufschwung jäh in sein Gegenteil verkehren sollte. 650.000 Männer arbeiten 1912 deutschlandweit im Bergbau. 2018 sind es keine 2500 mehr, verteilt auf die Zechen Prosper Haniel Bottrop und Anthrazit Ibbenbüren. Für sie ist bis Ende des Jahres ebenfalls Schluss: ein langer Abschied. Anfang 2007 stellte die Politik die Weichen für das Ende des Steinkohlebergbaus, der in 250 Jahren kleine Städte zum Revier verschmolz, und der aus dem verschlafenen münsterländischen Dorf Selm fast über Nacht eine Stadt wachsen ließ. Die Selmer Kumpels hatten Anfang des 20. Jahrhunderts nicht so lange Zeit, um Abschied zu nehmen.

Wer den Ersten Weltkrieg überstanden hat, erlebt den Niedergang – und das erst einmal im wortwörtlichen Sinne: 1100 Meter. So tief hinab wagen sich im Ruhrgebiet nirgendwo sonst Bergleute. Die Plackerei bei extremer Hitze und Feuchtigkeit wird den Selmern nicht gedankt. Die Zeche fährt ab 1923 zunehmend Verluste ein. Im Juli 1926 zieht die Gesellschaft einen Schlussstrich. 3300 Kumpels sind von jetzt auf gleich arbeitslos: ein Schicksalsschlag für jede Familie, eine wirtschaftliche Katastrophe für die Stadt.

Der Leuchter im Amtshaus ist kunstvoll verziert.

Der Leuchter im Amtshaus ist kunstvoll verziert. © Foto: Sylvia vom Hofe

Der Bergbau bleibt ein wichtiger Arbeitgeber. Die Kumpels pendeln jetzt, erst nach Lünen, später nach Dortmund und weiter. Nur ein Bergmann bleibt während der ganzen Wirren unbewegt an seinem Platz: der Steiger auf dem Leuchter im Amtshaus. 2009 zieht ein Kumpel in die Amtsstube zwei Türen weiter ein: Bürgermeister Mario Löhr. Er hat eine Ausbildung bei der Ruhrkohle AG absolviert als Industriemechaniker. „Die RAG war für ihre sehr gute Ausbildung bekannt und sehr beliebt“, sagt er. Als erster seiner Familie entschied sich der gebürtige Werner für eine Arbeit im Bergbau – zumindest eine Zeit lang: „Nach der Ausbildung war ich noch 15 Monate unter Tage auf dem Bergwerk Heinrich-Robert in Hamm-Herringen.“

Zu diesem Zeitpunkt haben sich längst Großschachtanlagen zu Verbundbergwerken zusammengeschlossen. Und die Zahl der Bergleute sinkt drastisch. Zechen werden stillgelegt und die Fördermengen heruntergefahren. Der Anfang vom Ende.

„Ade, nun ade!“ Bis zur fünften Strophe des Steigerliedes schafft es heute kaum noch jemand. Der Bergmann auf dem Leuchter verrät nicht, ob er textsicher ist.

Kaum noch jemand lebt, der sich an Zeche Hermann erinnern kann

Er bleibt starr und stumm. Zu der Zeit, als ein kunstsinniger Kollege ihn schuf, galt der Abschiedsgruß in dem beliebten Marsch aber weder der gerade aufblühenden Zeche Hermann, noch der ganzen Branche, sondern dem „lieb‘ Schätzelein!“, das zuhause wartet, während der Mann einfährt in den Schacht. Ob er nach der Schicht heil zurückkehrt, ist nie sicher.

An das vergangene Leid erinnert heute nichts mehr. Kaum noch jemand lebt, der aus eigener Erinnerung berichten könnte, wie Vater, Bruder, Freund oder Ehemann den Lebensunterhalt auf Zeche Herrmann zu verdienen versuchten. Wie das Leben in der Kolonie war. Und wie das Überleben unmittelbar nach der Schließung der Zeche Herrmann. Immerhin: Das Zechengebäude existiert bis heute – inzwischen als Sitz des Unternehmens Interhydraulik. Am Zeche-Hermann-Wall erinnert die Skulptur auf dem Kreisel an die Bergarbeiter von einst. Und die Ortsgruppe der IGBCE zeigt, dass Bergbau auch ohne Zechen eine lebendige Gemeinschaft bildet.

Es genügt, den Lichtschalter zu drücken

Ende des Jahres gehen die Lampen aus im deutschen Steinkohlebergbau. Alle, bis auf eine. Die im Saal des alten Amtshauses Bork wird weiter brennen. Wie es im Steigerlied – in der ersten Strophe, die noch jeder kennt – schon heißt: „Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, und er hat sein helles Licht bei der Nacht, schon angezünd’t.“ Der Steiger auf dem Leuchter braucht dafür aber gar nicht selbst tätig zu werden und die Flamme seiner Karbidlampe zu entfachen. Es genügt, den Lichtschalter zu drücken. So, wie es Christel Melis macht, wenn sie den Saal vorbereitet für die nächste Trauung.

50 Euro extra kostet das, wenn ein Paar unter der Woche im historischen Ratssaal Ja zueinander sagen möchte, 116 Euro, wenn der Termin außerhalb der Dienstzeit liegt. Wer sich dieses Extra leistet, tut gut daran, kurz den Blick von dem Partner fürs Leben zu lösen und nach oben zum Steiger auf dem Leuchter zu schauen. Trotz Katastrophen und Krisen brennt er immer noch für den Bergbau, obwohl kaum noch etwas übrig geblieben ist von dem, das ihn einst ausmachte: eigentlich ein schönes Bild für jede Ehe.

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