Haushaltsreden 2023 in Selm: Laute Kritik am Bürgermeister „Murkserei“ und „fehlender Kompass“

Kritik an Bürgermeister: „Murkserei“ und „fehlender Kompass“
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Die Ratssitzung zur Verabschiedung des Haushalts ist in einer Kommune so etwas wie die Generaldebatte im Bundestag: eine Bilanz des eigenen Wirkens und eine Abrechnung mit den politischen Mitbewerbern. Der Selmer Rat hatte zwar in seiner Februar-Sitzung die Abstimmung über den Haushalt verschoben. Haushaltsreden gab es aber dennoch - und damit klare Worte, mitunter auch deftige Kritik, auch an die Adresse der Verwaltung.

Auch wenn es noch kein Votum gab über den neuen Schulden-Etat, der ein Volumen von mehr als 90 Millionen Euro hat: Wie sich Zustimmung und Ablehnung verteilen könnten im Stadtrat, hatten die Haushaltsreden der sieben Fraktionen und des fraktionslosen Werner Sell (ehemals SPD) bereits vermuten lassen. Die Bürgermeister-Partei SPD, aber auch UWG und „Gemeinsam für Selm“ wollen den Haushalt mittragen, CDU, Grüne, Familienpartei und FDP haben ihn abgelehnt.

Kritik ja, aber keine Fundamentalkritik oder Blockadehaltung: So wollte Claudia Mors, Fraktionssprecherin der CDU, der mit knappen Vorsprung größten Fraktion im Selmer Rat, ihre Position verstanden wissen.

CDU: Schuldenuhr anbringen

Mors hatte ihre Haushaltsrede auf das Thema Stadtfinanzen fokussiert. „Die Schuldenlast der Stadt ruht auf den Schultern der Kinder, während hier alle die Schuld von sich weisen.“ Es gelte, in der schweren Lage, das Ruder doch noch rumzureißen. Ein kleiner Schritt dahin: Die Spielplatzpläne für Bork noch einmal zu modifizieren. Einen sechsstelligen Betrag dafür auszugeben, passe nicht in die Zeit.

„Das, was uns allen blüht, sind Steuererhöhungen.“ Die CDU - alle anderen bekräftigten später Ähnliches - setze alles daran, „es bei keinen bis geringen Erhöhungen“ zu belassen. Eine Ausgabe, die der CDU am Herzen liegt, braucht die Allgemeinheit nicht zu tragen. Dafür habe sie schon Sponsoren gefunden: „eine Schuldenuhr am Amtshaus.“

An der Spitze der  Selmer CDU-Fraktion steht Claudia Mors. Sie hat die desolate Finanzsituation der Stadt und die Belastung der nachfolgenden Generation in den Mittelpunkt ihrer Haushaltsrede gestellt.
An der Spitze der Selmer CDU-Fraktion steht Claudia Mors. Sie hat die desolate Finanzsituation der Stadt und die Belastung der nachfolgenden Generation in den Mittelpunkt ihrer Haushaltsrede gestellt. © Dennis Görlich (Archiv)

„Nichtstun und Jammern ist auch keine Lösung“, zitierte SPD-Chef Jürgen Walter die Kämmerin Sylvia Engemann. Er verwies darauf, dass dank der städtischen Bemühungen, neue Gewerbebetriebe anzusiedeln und bestehenden die Erweiterung zu ermöglichen, „die Gewerbesteuereinnahmen steigen“.

SPD: „Keine Negativkampagne“

Dennoch gelte es, „notwendige Sparmaßnahmen“ zu treffen. Welche konkret das sein sollen, sagte Walter nicht. Wohl aber, wo er eine rote Linie sieht: „Wir werden keiner Grundsteuererhöhung zustimmen.“ Während andere Fraktionen die Verwaltung hart angriffen wegen handwerklicher Fehler, betonte Walter: „Die Verwaltung tut meiner Information nach alles, um das Problem mit der Bodensanierung auf dem Gelände der Caritas in Bork zu klären“, damit die Caritas möglichst schnell mit dem Bau des Altenheims beginnen könne. Walter warb dafür, die Erweiterung der Sekundarschule zur Gesamtschule zu prüfen, „und keine Negativkampagne“ gegen das Vorhaben zu führen. Außerdem forderte er eine „zeitnahe Umsetzung der Rettungswache“. Warum das Vorhaben, das längst realisiert sein sollte, überhaupt so lange auf sich warten lässt, nachdem die Stadt entschieden hatte, selbst zu bauen und nicht durch einen Investor bauen zu lassen, beleuchtete er nicht.

Der Selmer SPD-Fraktionschef Jürgen Walter fordert auch wie alle anderen Entlastungsmaßnahmen durch Land und Bund für die Kommunen. In die Kritik der übrigen Fraktionen an der Selmer Verwaltungsspitze fällt er aber nicht ein.
Der Selmer SPD-Fraktionschef Jürgen Walter fordert auch wie alle anderen Entlastungsmaßnahmen durch Land und Bund für die Kommunen. In die Kritik der übrigen Fraktionen an der Selmer Verwaltungsspitze fällt er aber nicht ein. © SPD Selm (Archiv)

Bei der Forderung nach der Gesamtschule stimmte Dr. Hubert Seier (UWG) der SPD völlig zu. Seine Beurteilung des Verwaltungshandelns fiel aber weniger gnädig aus.

UWG: „Alles Murkserei“

Seier sprach von „wenig ambitionierten Bebauungsplänen“, „falsch verstandenen Investorenmodellen“, bei denen sich die Stadt devot an den Investor klammere, anstatt selbstbewusst Vorgaben zu machen und „viel zu wenige und viel zu langsam umgesetzte Klimaschutzmaßnahmen“. Ob beim belasteten Baugrund für die Caritas, beim abgesagten Hallenbad-Umbau oder bei dem In eine planerische Sackgasse geratenen Bebauungsplan Hüttenbachweg: „Das ist alles Murkserei“: eine Liste, die sich noch fortsetzen ließe, so Seier. Ihn schmerzten vor allem die vertanen Chancen im Kampf gegen den Klimawandel. Noch immer gebe es keine Fotovoltaik-Anlage auf dem seit 2019 fertiggestellten Dach der neuen Zweifachhalle.

Hubert Seier (Archivbild) trägt den Selmer Haushaltsentwurf mit. Dennoch übt auch er harsche Kritik, insbesondere auch an der Klimapolitik.
Hubert Seier (Archivbild) trägt den Selmer Haushaltsentwurf mit. Dennoch übt auch er harsche Kritik, insbesondere auch an der Klimapolitik. © Foto: Tobias Weckenbrock

„Erschreckend“ nannte Christina Grave-Leismann, Fraktionsvorsitzende der Grünen, die Ausgaben der Stadt für Klimaschutzmaßnahmen: „erschreckend niedrig.“

Grüne: Zu wenig fürs Klima

Flächenfraß und Umweltbelastungen seien Themen, die regelmäßig zu kurz kämen, wenn es um die Entwicklung neuer Flächen geht: Wie die UWG bemängelten auch die Grünen, dass die Stadt Investoren zu unkritisch entgegenkomme - wie etwa im Auenpark. Dort habe die Stadt es verpasst, selbst zu bauen und ökologische, aber auch soziale Standards vorzugeben. Die Zahl der „Fehlinvestitionen und Nachlässigkeiten“ fand Christina Grave-Leismann deutlich zu hoch. Ein Beispiel: der Campus, auf dem ihrer Meinung nach „deutlich zu viel Fläche versiegelt“ wurde. Dass 15 Kübelpflanzen für ein besseres Klima sorgen sollen, sei lächerlich.

Christina Grave-Leismann (Grüne) rügt, dass der Kampf gegen die Klimakatastrophe zu wenig Niederschlag im Haushaltsentwurf finde.
Christina Grave-Leismann (Grüne) rügt, dass der Kampf gegen die Klimakatastrophe zu wenig Niederschlag im Haushaltsentwurf finde. © Grüne (Archiv)

Ralf Piekenbrock (Familienpartei) sprach auch mit Blick auf die 4,2-Millionen-Euro-Invesitition der Vorjahre für den Kauf der acht alten Häuser an der Kreisstraße von „stümperhafter Misswirtschaft“.

Familienparte: „Stümperhaft“

Dasselbe Urteil treffe zu angesichts des Caritas-Debakels in Bork und des Rechtsstreits mit Gelsenwasser. Piekenbrock vermisst bei der Verwaltung „Ehrlichkeit und Transparenz“. Per Salamitaktik Fehler einzuräumen, würde nicht helfen, auch durch die Abrechnungsaffäre und den Mauschelei-Versuch bei der Besetzung des Stadtwerke-Postens verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Ralf Piekenbrock (Familienpartei) bei einer Wahlkampfveranstaltung 2020. In seiner Haushaltsrede rügte er „stümperhafte Misswirtschaft“.
Ralf Piekenbrock (Familienpartei) bei einer Wahlkampfveranstaltung 2020. In seiner Haushaltsrede rügte er „stümperhafte Misswirtschaft“. © Günther Goldstein (Archiv)

Klaus Schmidtmann (FDP) blickte erst auf das zurückliegende Doppeljubiläum „900 Jahre Stiftung des Klosters Cappenberg“ und „900 Jahre Barbarossa“. Selm habe bundesweit auf sich aufmerksam gemacht - auch dank großen ehrenamtlichen Engagements.

FDP: Wo ist Wirtschaftlichkeit?

Der Kontrast zu den Fehlern der Stadtverwaltung war denkbar groß. Allen voran nannte Schmidtmann den Kauf und anschließenden Verkauf der acht Kreisstraßenhäuser, die immer noch stehen und er Stadt bislang kein Geld eingebracht hätten. „Dieses Geld fehlt uns heute.“ Bürgermeister Orlowski lasse die „gebotene wirtschaftliche Arbeitsweise“ vermissen, meinte der FDP-Mann.

Klaus Schmidtmann (FDP) sprach ein Highlight des an Krisen reichen zurückliegenden Jahres an: die Feierlichkeiten zum Doppeljubiläum „900 Jahre Barbarossa“ und „900 Jahre Stiftung Cappenberg“.
Klaus Schmidtmann (FDP) sprach ein Highlight des an Krisen reichen zurückliegenden Jahres an: die Feierlichkeiten zum Doppeljubiläum „900 Jahre Barbarossa“ und „900 Jahre Stiftung Cappenberg“. © Sylvia vom Hofe (Archiv)

Wolfgang Jeske von „Wir für Selm“ (WFS) warnte davor, „in die Zeit vor 2009 zurückzufallen.“

WFS: „Nicht wie vor 2009“

Damals war Mario Löhr, der heutige Landrat des Kreises Unna, zum Selmer Bürgermeister gewählt worden. Er hatte in dem zuvor eher zerstrittenen Rat über Fraktionsgrenzen hinweg Mehrheiten für die großen, von der Regionale geförderten Bauprojekte Campus und Auenpark geschmiedet. Bei den aktuellen Bauprojekten - der einstige SPD-Mann Jeske nannte beispielhaft Overbergschule, Hallenbad und Burg Botzlar - suche Bürgermeister Orlowski nicht das Gespräch mit der Politik.

Wolfgang Jeske ist Sprecher der Fraktion „Gemeinsam für Selm“. Er macht sich Sorgen um die politische Ist-Situation in der Stadt.
Wolfgang Jeske ist Sprecher der Fraktion „Gemeinsam für Selm“. Er macht sich Sorgen um die politische Ist-Situation in der Stadt. © Günther Goldstein (Archiv)

Der fraktionslose Werner Sell setzte an dieser Kritik an dem Bürgermeister nahtlos an: „Ich vermisse den Kompass, die klare Richtung und die Vision. Wo ist das Leitbild unseres Bürgermeisters?“

Sell: Wo ist Leitbild?

Sell hatte die SPD-Fraktion verlassen, nachdem seine Parteifreunde auf Distanz zu ihm gegangen waren, als der Verdacht laut wurde, Sell könne auch in die Abrechnungsaffäre des Kreises Unna verstrickt sein. Die UWG ist indes genauso wenig von Hubert Seier abgerückt wie die Grünen im Selmer Rat von Marion Küpper. Gegen die beiden wird ebenfalls ermittelt: etwas, das lediglich Ralf Piekenbrock (Familie) und Klaus Schmidtmann (FDP) in ihren Haushaltsreden ansprachen. Ihr Urteil: „Vertrauen wurde beschädigt“, obgleich bislang die Unschuldsvermutung gelte.

Der fraktionslose Werner Sell vermisst beim Selmer Bürgermeister ein Leitbild.
Der fraktionslose Werner Sell vermisst beim Selmer Bürgermeister ein Leitbild. © Tobias Weckenbrock (Achiv)

Hätten alle Ratsmitglieder so gestimmt, wie ihre Fraktionssprecherinnen und -sprecher es vorgegeben haben, hätte eine Abstimmungsniederlage gedroht für den Bürgermeister und seine SPD. So weit war es nicht gekommen. Das Votum ist verschoben. Wie von den meisten gefordert, wird jetzt erst die interfraktionelle Arbeitsgruppe ihre Arbeit aufnehmen, um Einsparmöglichkeiten zu suchen im Etatentwurf. Das erste Treffen ist am Rosenmontag.

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