Familie Macit lebt Weihnachten das ganze Jahr über, und das hat nichts mit Religion zu tun

© Sylvia vom Hofe

Familie Macit lebt Weihnachten das ganze Jahr über, und das hat nichts mit Religion zu tun

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Christen sind sie nicht. „Aber selbstverständlich feiern wir Weihnachten“, sagt Erdal Macit (38) - wegen der Kinder. Und weil sich der Geist der Weihnacht in ihrem Keller versteckt hatte.

Selm

, 24.12.2018, 05:55 Uhr / Lesedauer: 3 min

Heiligabend 2010 ist er plötzlich da. Figan Macit erschrickt sich, als sie die kauernde Gestalt kurz nach Mitternacht im Fahrradkeller entdeckt: ein Junge, etwa 18 Jahre alt. Ein Gestrandeter. Das Land versinkt gerade in Schneemassen. Busse und Bahnen haben ihren Betrieb eingestellt. Zu dieser Zeit wäre aber ohnehin kein Bus mehr von Cappenberg nach Selm gefahren. Der Junge hängt fest. Er hatte, wie er erzählt, einen Freund besucht. Dessen Mutter habe aber nicht erlaubt, dass er dort übernachtet. Ob das stimmt, werden die Macits, die ihr erstes gemeinsames Weihnachten als Familie gerade mit Freunden ein paar Häuser weiter gefeiert hatten, nie erfahren. Das spielt für ihre Entscheidung aber auch gar keine Rolle.

Der junge Familienvater verbringt eine schlaflose Nacht

Fünf Minuten später hockt der junge Mann nicht mehr unten im zugig-kalten Keller, sondern sitzt mit einer Tasse dampfendem Tee in der Hand oben in der behaglich warmen Wohnung. Da, wo die gerade zwei Monate alte Acelya Tamara in der Wiege schläft. Und wo sich auch Figan Macit bald zur Ruhe begibt. Vater Erdal wird aufbleiben. Er ist zwar gastfreundlich und hilfsbereit, aber er ist nicht naiv. Von dem jungen Mann weiß er nichts, als dass er zu dünn angezogen ist, um eine Nacht bei eisigen Temperaturen draußen unbeschadet zu überstehen. Der erst ein Jahr zuvor aus der Türkei nach Deutschland gezogene Lehrer und ehemalige Studentenvereinsvorsitzende lädt den Gast ein, auf dem Sofa zu schlafen. Er selbst wacht lieber auf dem Sessel daneben. Sicher ist sicher. Am Morgen, als die Kehrmaschinen die Straße freigeräumt haben und sich die Busse wieder aus dem Depot wagen, begleitet er den Jungen zu Bushaltestelle. Die beiden werden sich nie wiedersehen. Bei anderen, die sie aufnehmen, ist das anders.

Die Kinder freuen sich, dass sie zwei Tannenbäume haben: zuhause in Selm und hier im Haus Dörlemann, der Borker Dorfkneipe.

Die Kinder freuen sich, dass sie zwei Tannenbäume haben: zuhause in Selm und hier im Haus Dörlemann, der Borker Dorfkneipe. © Sylvia vom Hofe

Vor drei Jahren - die Flüchtlingskrise ist gerade auf ihrem Höhepunkt - nimmt die inzwischen um Töchterchen Eftelya Amara gewachsene Familie Syrer zuhause auf. „Nur für ein paar Tage.“ Daraus werden sechs Monate. „Das war schon etwas grenzwertig“, sagt Figan Macit (39), schaut ihren Mann an, und beide lachen. „So sind wir eben“, sagt er. „Wir können gar nicht anders“, ergänzt sie. Inzwischen sind die Macits zu fünft: Robin Jan ist gerade zwei Jahre alt. Der Junge schläft, während seine Schwestern Memory spielen - nicht zu Hause, sondern im Haus Dörlemann, der Borker Dorfkneipe auf der Hauptstraße. Ihrer Kneipe. Wieder typisch Macit.

Warum ein Lehrer nebenher eine Kneipe führt

Während andere Lehrer nach Feierabend zu Hause am Schreibtisch sitzen, setzt sich Erdal Macit seit März 2017 dann in seine Kneipe. Viele seiner Bücher stehen ohnehin dort im Regal, weil er im Hinterzimmer lange Flüchtlingen ehrenamtlich Deutschstunden gegeben hat. Manchmal auch jetzt noch. „Aber das ist kaum noch nötig“, sagt er. Die meisten Flüchtlinge, die er, seine Frau und viele Freunde im von ihnen gegründeten Verein „Schicksalshelfer“ betreuen, besuchten bereits Sprachkurse. „Wichtiger ist es, Lebenshilfe zu leisten“: zu Behörden begleiten, bei der Wohnungssuche helfen, ein offenes Ohr haben und Kontakte vermitteln. „Wo geht das besser als in einer Kneipe“, sagt Figan Macit und winkt lachend dem jungen Barmann hinterm Tresen zu, einem Syrer: „Vier der acht Leute, die hier regelmäßig arbeiten, sind Geflüchtete.“ Und längst Angekommene - zumindest in Bork. Dass münsterländische Poahlbürger am Stammtisch bei Bier über Migration diskutieren, kommt vor. Dass sie es zusammen mit den Betroffenen tun, hat Seltenheitswert.

In der traditionellen Kneipe im Ortskern arbeiten neben den Macits auch Menschen, die als Flüchtlinge nach Selm gekommen sind.

In der traditionellen Kneipe im Ortskern arbeiten neben den Macits auch Menschen, die als Flüchtlinge nach Selm gekommen sind. © Sylvia vom Hofe

Acelya und Eftelya sind beim Memoryspielen in Streit geraten. Robin wird von ihrem Gezanke wach und weint. Der Barmann ist mit wenigen Schritten bei ihnen. „Er ist gerade selbst Vater geworden“, sagt Figan. Nachbarn und Freunde von Haus Dörlemann haben gesammelt. „Im Nu war eine Erstausstattung für das Baby zusammen.“ Gelebte Solidarität sei eben nie eine Einbahnstraße. Sie freue sich, dass ihre Kinder das von klein auf erlebten.

Eine Herkunft, die prägt

So wie Erdal. Der älteste Sohn einer Großfamilie aus Merdin an der türkisch-syrischen Grenze: einem alten Zentrum vieler Völker und Kulturen. „Ich habe als Kind ganz selbstverständlich zusammen mit Christen und Juden gespielt“, sagt der gebürtige Moslem, der sich selbst als nicht religiös bezeichnet. „Wir haben damals auch die Feiertage zusammen gefeiert“ - auch Weihnachten. Seine Frau Figan, die in Lünen-Süd als Tochter von türkischen Gastarbeitern geboren wurde, kennt das nicht so. „Ich war in der Schule immer traurig, wenn Weihnachten war.“ Alle anderen Kinder der Klasse hätten stolz ihre Geschenke gezeigt und wir haben keine bekommen.“ Ihren Kindern sollte es nicht so gehen.

Acelya und Eftelya haben sich wieder vertragen. Sie herzen stürmisch ihren kleinen Bruder. Heiligabend, erzählt die Jüngere dabei, sei Bescherung. Und am zweiten Weihnachtstag kämen Freunde und Verwandte, ergänzt die Ältere. „Wir werden mehr als 20 Leute sein“, so Mutter Figan Macit. Auch ihre eigenen Eltern feierten inzwischen begeistert mit. „Sie machen sich schick und legen Geschenke unter den Baum.“ Dafür müsse man ja nicht gläubiger Christ sein. Auch nicht, um Menschen auf Herbergssuche die Tür zu öffnen - egal, zu welcher Jahreszeit,

Der Schnee ist schon wieder getaut im Winter 2010, als eine ältere Frau bei den Macits an der Haustür schellt. „Ich möchte mich bedanken, weil sie meinem Enkel geholfen haben“, sagt die Unbekannte, überreicht eine Tafel Schokolade und ist schon wieder weg. Figan Macit fällt erst Stunden später ein, wen sie wohl gemeint hat.