Erich Kreul überlebt Kamikaze-Einsatz im 2. Weltkrieg „Für dieses Regime wirfst du dein Leben nicht weg“

Kamikaze-Einsatz im Zweiten Weltkrieg: Erich Kreul sollte Oder-Brücke sprengen
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Die Stimmung ist wie auf einer Beerdigung. Zusammen mit zehn anderen Jagdfliegern der Wehrmacht steht Erich Kreul am 17. April 1945 am Gefechtsstandort in Pasewalk in Vorpommern. Den Nachmittag hatten der 26-jährige Pilot und seine Kameraden am Stützpunkt noch damit verbracht, Skat zu spielen und Cognac zu trinken. Am Abend sieht er dann seinen Freund, den Unteroffizier Kleemann, laut weinen - vor Angst und Verzweiflung. „Dreh‘ nicht durch“, raunt er ihm zu.

Gegen 17.30 Uhr hatte es Alarm gegeben. Einen besonderen in dem nun schon sechs Jahre währenden Krieg. Erich Kreul und sein Freund Kleemann bekommen einen „Auftrag mit Selbstaufopferung“. Mit anderen Worten: Sie werden in dieser Endphase des Zweiten Weltkrieges auf ein Selbstmordkommando geschickt.

Riskante Rammangriffe in der Luft

Auch wenn man es der Reaktion des Unteroffiziers Kleemann nicht anmerkt: Die beiden Männer hatten sich für diese Art von Auftrag früher am Tag gemeldet - und zwar freiwillig. Der Major Langer war auf die etwa 15 Fahrzeugführer zugekommen, die gerade erst ausgebildet und noch recht jung waren. Jetzt käme die Stunde der Bewährung, sagte er zu den Männern, sprach von einem Sonderkommando, zu dem man sich freiwillig melden könne. Konkreter wurde er nicht - bis die Hand von Erich Kreul in die Höhe ging. In München, so sagt er dem Major, habe er sich zu den Rammjägern gemeldet. Ist dieses Kommando etwas ähnliches, fragt er. Ziemlich ähnlich sogar, bestätigt der Major.

Rammangriffe in der Luft, bis dahin eigentlich ein No-Go im Kampf, waren ein letzter, verzweifelter Versuch der deutschen Luftwaffe, noch etwas gegen die Niederlage im vom Nazi-Regime begonnenen Weltkrieg auszurichten. Für die Piloten waren sie der fast sichere Tod - trotzdem meldeten sich mehr von ihnen freiwillig als es Plätze gab. So wie Erich Kreul, der nicht genommen wird.

Sonst hätte er den 17. April 1945 wahrscheinlich auch gar nicht erlebt. Zehn Tage zuvor fliegen die Rammjäger nämlich ihren ersten Angriff. „Sonderkommando Elbe“ heißt er offiziell, wird danach in einigen Berichten aber „Kamikaze über dem Steinhuder Meer“ genannt. 183 deutsche Piloten sollen mit ihren Maschinen die ahnungslosen amerikanischen Bomber in der Luft rammen, dann mit einem Fallschirm aus dem Flugzeug springen. Der Himmel über dem Steinhuder Meer wird zum Schlachtfeld - zwei Stunden lang. Das Ziel der Deutschen, die Bombenangriffe der Amerikaner aufzuhalten, scheitert deutlich, da hilft alle Radikalität nicht. Drei Viertel der Piloten sterben.

Erich Kreul 2010
Der Selmer Erich Kreul in seiner Wohnung am Grünen Weg mit Dokumenten, Bildern und Erinnerungsstücken an die Kriegszeit. Das Bild ist aus dem Jahr 2010. © Münch

Erich Kreul wird das vermutlich wissen, als er sich zehn Tage später noch einmal freiwillig für den Sonderauftrag meldet. Warum nur? Der junge Mann ist verheiratet, seine Frau hat gerade eine Tochter auf die Welt gebracht. Vielleicht war es Angst vor dem System, vielleicht war es Fatalismus. Er wisse es selbst nicht mehr, wie er 2015 im Gespräch mit den Ruhr Nachrichten erklärt. Da ist er 90 Jahre alt und lebt in Selm. Im Rückblick sagt er damals: „Es ging nicht wirklich um Freiwilligkeit. Wir waren tapfer. Aber bei uns gab es nicht diese Selbstmord-Mentalität wie bei den Japanern.“ Die Kamikaze-Spezialangriffstruppe war Teil der kaiserlichen japanischen Marine - ab 1944 versenkten die Piloten mit ihren Maschinen Schiffe der US Navy und der Royal Navy, indem sie in diese hineinflogen und sich selbst mit opferten.

Abschiedsbrief an seine Frau

Erich Kreul weiß am 17. April 1945, dass auch er sein Leben lassen könnte bei dem Sondereinsatz. Sein Auftrag, so erfährt er, ist, mit seinem mit Sprengstoff beladenen Flugzeug in die Ponton-Brücke von Kalenzig bei Küstrin zu fliegen. Eilig schreibt Erich Kreul einen Abschiedsbrief an seine Frau. Sein letztes Hab und Gut vertraut er seinem Freund Kleemann an, der einen Rückzieher gemacht hat und nicht ins Flugzeug steigen wird. „Und kommt da der harte Sensemann/und holt Dich zur allerletzten Fahrt/Da seh‘ ich mir die Welt noch einmal an und tröste mich auf eigene Art“ - singen die Kameraden, kurz bevor Erich Kreul in sein Flugzeug steigt und bereit ist, zu sterben.

Messerschmitt-Jagdflugzeug aus dem 2. Weltkrieg
Ein Messerschmitt-Jagdflugzeug aus dem 2. Weltkrieg. Mit einem solchen war Erich Kreul unterwegs. © picture-alliance/ dpa

„Die Brücke war weg und ich lebte“

Nach dem Krieg hat Erich Kreul aufgeschrieben, wie es ihm in den nächsten Minuten und Stunden ging. „Ich ging auf Höhe 6000. Die Gedanken überschlugen sich. Ich war mir nicht im Klaren, was nun werden sollte. Erst als ich das Ziel vor Augen hatte, war alles klar: Du schmeißt die Bombe, und wenn du durchkommst, fängst du ab und fliegst wieder nach Hause“, schrieb er. „Die Brücke, die ich angreifen sollte, war voll besetzt. Der Angriff der Russen rollte gen Westen. Ich stürzte bis zum Gehtnichtmehr, löste aus und fing ab. Im Tiefstflug bin ich über die Brücke weg gerauscht. Ich ging wieder auf Höhe. Alles war heile und ich war ok. Ich wusste nicht, ob ich etwas getroffen hatte. Die Bombe war weg, und ich lebte“, zitiert der SPIEGEL aus den Aufzeichnungen von Erich Kreul.

Was nun? „Ich hätte sagen können, mich verfranzt zu haben. Aber der Auftrag, den ich noch unter meiner Jacke hatte, lautete anders“, schreibt Erich Kreul in seinen Erinnerungen. Er fliegt dann also nicht zurück. Sondern will nach Hause - nach Magdeburg, wo seine Frau und seine neu geborene Tochter sind.

„Für dieses Regime wirfst du dein Leben nicht weg“

Daraus wird vorerst nichts: Über dem Harz geht im Flieger die rote Lampe an. Der Sprit ist leer. Mit einem Fallschirm springt Erich Kreul aus dem Flugzeug, verletzt sich. Er wird von Amerikanern festgesetzt und in Frankreich in ein Lazarett gebracht. „Nachdem sie mich da wieder zusammengeflickt hatten, bin ich stiften gegangen und kam über Luxemburg nach Hause.“ Dort hielt man Erich Kreul schon für tot - wegen des Abschiedsbriefes, den er geschrieben hatte.

Bei den Selbstmordattacken auf die Oderbrücken im April 1945 waren insgesamt 39 deutsche Piloten beteiligt, 17 Brücken wurden dabei zerstört, was die Rote Armee aber nicht an ihrem Vorrücken hinderte. In Selm, wo Erich Kreul und seine Familie nach dem Krieg wohnen werden, sind schon seit Karfreitag (30. März 1945) die Amerikaner vor Ort, Kampfhandlungen gibt es dort keine mehr.

Im Nachhinein bewundere er seinen Freund Kleemann, der am 17. April weinte und sich weigerte, ins Flugzeug zu steigen, schreibt Erich Kreul in seinen Erinnerungen. Kurz vor der Brücke, so sagt es der 90-Jährige im Mai 2010 im Gespräch mit den Ruhr Nachrichten, sei ihm klar geworden, dass es das nicht wert ist: „Für dieses Regime wirfst du dein Leben nicht weg.“

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