Mitte Juni musste der Kleinunternehmer Markus Jankowiak Schreckliches erleben. Ein ehemaliger Mitarbeiter hatte ihn in seinem Haus am Selmer Stadtrand aufgesucht. Ihm wird vorgeworfen, den Eingangsbereich und Jankowiak selbst mit Benzin übergossen und versucht zu haben, ihn anzuzünden.
14 Tage nach dem Anschlag hatten wir mit Markus Jankowiak darüber gesprochen. Er zeigte sich sichtlich traumatisiert. Sprach davon, nicht mehr schlafen, nicht mehr essen zu können, extrem schreckhaft zu sein. Buchstäblich in letzter Sekunde habe er dem Angreifer das Feuerzeug aus der Hand schlagen können. „Das hier hätte alles weg sein können“, sagte Jankowiak. Richtig betroffen machte ihn aber die Tatsache, dass seine 13-jährige Tochter alles mit ansehen musste. Sie war mittendrin im Geschehen, hatte dem Angreifer sogar die Tür geöffnet und hörte Sätze wie: „Du willst nicht sehen, wie Papa brennt, also geh nach oben.“
Im Interview haben wir mit Dr. Christian Lüdke, Lüner Psychotherapeut und Traumaexperte für Kinder und Jugendliche, darüber gesprochen, was ein solches Erlebnis mit Kindern und Jugendlichen macht.
Herr Dr. Lüdke, was ist dem Mädchen aus Ihrer Sicht geschehen?
Die 13-Jährige wird unter Hochstress gestanden haben: Angst um den Papa, Angst möglicherweise um sich selbst, eine massive Bedrohung. Für Kinder und Jugendliche ist aber immer wichtig, wie sie etwas erleben und nicht nur, was sie erleben. Entscheidend ist im Grunde genommen die Reaktion hinterher. Das heißt also: Sie hat gesehen, Papa ist erst einmal nichts passiert. Papa lebt, auch wenn das eine sehr aufregende Situation war. Das Entscheidende ist aber, dass er handlungsfähig geblieben ist. Denn Kinder orientieren sich immer an Mama und Papa. Da sind die wichtigsten Influencer. Trotzdem ist das natürlich ein durchaus traumatisches Ereignis, wenn man dem Tod buchstäblich ins Auge blickt.
Was genau passiert bei einem solchen Erlebnis mit dem Körper?
Ein solches Erlebnis erzeugt natürlich unfassbare Ängste und führt bei Jugendlichen dazu, dass sie erst einmal unter Schock stehen. Das ist eine seelische Ausnahmesituation. Unser Körper schaltet dann in eine Art Überlebensmodus um: fliehe oder kämpfe. Und wenn beides nicht funktioniert, dann kommt die Erstarrung. Das heißt, es ist erst mal eine hoch angespannte Stresssituation. Der Körper schüttet Adrenalin, das Überlebenshormon, aus. Danach wird Cortisol, das Durchhaltehormon, ausgeschüttet. Das führt dazu, dass denken, fühlen und handeln von einander entkoppelt werden.
Wie kann ein Elternteil sein Kind in der Zeit danach unterstützen?
Man sollte Jugendliche und auch Kinder mehrere Wochen genau beobachten. Sie zeigen sehr häufig stark verzögerte traumatische Reaktionen. Das heißt, selbst wenn man das Gefühl hat, alles ist wieder in Ordnung, kann es durchaus sein, dass in den folgenden Wochen oder Monaten traumatische Belastungsstörungen offensichtlich werden. Deshalb ist es wichtig, auf zwei Verhaltensänderungen zu achten, an denen man erkennen kann, ob Jugendliche möglicherweise doch höher belastet sind. Die eine ist: Das Kind verstummt, isoliert sich, trifft keine Freunde mehr. Oder: Das Kind wird aggressiv, fängt an, andere verbal oder körperlich anzugreifen. Oder - im schlimmsten Fall - zeigt es ein selbstverletzendes Verhalten. Das wären Hinweise, dass sie möglicherweise nicht aus eigener Kraft mit diesem traumatischen Ereignis zurechtkommen.
Sollten Eltern dann einen Psychologen hinzuziehen?
Erst mal nicht. Traumatisierte Jugendliche sind nicht krank im therapeutischen oder medizinischen Sinne. Aber sie haben etwas extrem Außergewöhnliches erlebt und zeigen dann in der Regel Symptome. Wir sprechen dabei von der Normalität der Symptome. Angst oder Unsicherheit, zum Beispiel wenn jemand ein Feuerzeug in der Hand hat. Solche Auslösereize oder Trigger, wie man auch sagt, können zu Panik oder Schlaflosigkeit führen. Alle diese Symptome sind aber eine normale Reaktion auf dieses verrückte Ereignis. Was Jugendliche jetzt in der Akutphase brauchen, ist die Anwesenheit von stabilen Persönlichkeiten, im besten Falle Papa und Mama oder eben auch andere Erwachsene, die jetzt Hoffnung und Zuversicht vermitteln. Und es ist wichtig, sie nicht zu sehr damit zu konfrontieren. Denn: Jede Konfrontation, jedes darüber Reden führt zu einer Erlebnissaktivierung und letztlich zu einer Retraumatisierung. Abstand und Ablenkung sind jetzt das Wichtigste.
Und das führt nicht zu einer Verdrängung, also dass das Trauma später vielleicht wieder hochkommt?
Nein, das ist reine Biochemie. Unser Körper regelt das selbst. Bei einem solchen Erlebnis schüttet der Körper sehr viel Adrenalin und Cortisol aus. Das Schmerzzentrum im Gehirn geht an, der Magen-Darm-Trakt reagiert und das beste Gegenmittel ist, wenn der Körper eben Glückshormone ausschüttet, indem wir Spaß erleben: Schwimmbad, leckeres Essen, Party, 20-mal die Lieblingsserie auf Netflix, was auch immer. Das Wichtigste ist: ablenken, ablenken, ablenken. Das verhindert, dass das traumatische Ereignis ins Nervensystem einsickern kann.
Welche Phasen durchleben traumatisierte Jugendliche?
Drei Phasen: zuerst die Schockphase. Eine akute Angst, Überforderung, Unsicherheit, Hilflosigkeit. Dieser akute Schock kann bis zu zwei Wochen andauern. Danach kommt die Einwirkungsphase mit der Erinnerung an viele Details und mit ihr die Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Übelkeit, Spannungszustände, Reizdarm. Also ganz viele Beschwerden, die bis zu drei Monate anhalten können. In dieser Phase ist die Ablenkung wichtig. Und Selbstfürsorge: Ernährung, Bewegung und Entspannung. Sollten dann aber die drei Kern-Symptome weiter bestehen, sollte das Kind, der Jugendliche immer noch weniger als sechs Stunden pro Nacht schlafen, sollte es Essstörungen geben oder sollte ich diese belastenden Bilder nicht los werden, dann würde ich erst, und das frühestens nach drei Monaten, mit einer Behandlung beginnen. Also im besten Fall mit einer Verhaltenstherapie oder Traumatherapie.
Inwiefern unterscheiden sich Traumata bei Kindern und bei Jugendlichen?
Der Unterschied ist: Kinder bis zum zehnten Lebensjahr sind komplett an Mama und Papa angedockt. Die Welt der Kinder bis zum zehnten Lebensjahr besteht nur aus Mama und Papa. Und alles was geschieht, machen sie an Menschen, an Personen fest. Das heißt also, da ist es wichtig, wie reagiert Mama, wie reagiert Papa? Und da sollten die Eltern ganz ruhig, ganz sachlich bleiben, auch wenn sie selber Angst haben, emotional sollten sie nicht reagieren, sondern sie sollten dem Kind gegenüber ganz ruhig auftreten, weil dann ist die Welt des Kindes auch wieder beruhigt, wenn sie sehen, Mama geht es gut, dann geht es mir gut. Bis zum zehnten Lebensjahr ist Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit die Währung der Kinder.
Können alle Ereignisse traumatisieren, bei denen Eltern in Gefahr sind?
Ja, generell können Ereignisse, die plötzlich unvermittelt, unvorhergesehen eintreten, Traumata auslösen. Sie sind verbunden mit Gefühlen von Hilflosigkeit, Kontrollverlust, das grundlegende Sicherheitsgefühl wird erschüttert. Ich bin der Situation völlig hilflos, schutzlos ausgeliefert. Ich kann nichts dagegen machen. Ich gucke in den Lauf der Waffe. Ich sehe das Auto auf mich zurasen. Ich sehe die Welle kommen. Kennzeichen ist, dem Tod buchstäblich ins Auge blicken.
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