„Awo-Zentrum Selm“ steht in schwarzen Lettern auf dem Schild. Um das große A wölbt sich ein rotes Herz: das Logo der Arbeiterwohlfahrt und zugleich die Einladung an alle, das Haus an der Kreisstraße (B 236) in Selm zu betreten. Die am Wahlsonntag (23. 2.) in Scharen dorthin kamen, fühlten sich jedoch weder mit Schwarz, noch mit Rot verbunden. Sie wählten Hellblau. In keinem anderen der 17 Wahllokale in Selm haben mehr Menschen den Direktkandidaten der Alternative für Deutschland (AfD) gewählt: mehr als jeder Dritte, 35,79 Prozent der Wahlberechtigten.
„Das macht mich betroffen“, sagt Gabriele Steinberg, die seit acht Jahren Vorsitzende der Awo Selm ist. Sie selbst sei überzeugte SPD-Wählerin. Das Ampel-Chaos der zurückliegenden Regierung, räumt sie ein, habe aber auch sie hadern lassen. Allerdings nicht so sehr, dass sie auf die Idee gekommen wäre, die AfD zu wählen, diese in Teilen gesichert rechtsextremistische Partei, die Menschen in ihren Reihen duldet, die gerichtsfest als Faschisten bezeichnet werden dürfen, und die dem Verfassungsschutz bundesweit Anlass zu dem Verdacht bietet, das Grundgesetz aus den Angeln heben zu wollen. 3788 Männer und Frauen in Selm sahen das anders.
Sie gaben der bundesweit inzwischen zweitstärksten Partei ihre Stimmen und halfen, mit einer Zustimmungsquote von 22,47 Prozent, dem Hammer Unternehmer Georg Schroeter, über die Liste ein Ticket in den Bundestag zu lösen. Das Selmer Stadtergebnisse liegt über dem Gesamtergebnis im Wahlkreis Hamm/Unna II (21,5 Prozent) und über dem von Lünen (21,96 Prozent), von Hamm (21,4) und von Werne (17,39). Kreisweit hat nur Bergkamen eine größere Begeisterung für Rechtsaußen gezeigt, die noch 0,8 Prozentpunkte über der in Selm lag. Diese Entwicklung macht nicht nur dem Team der Awo Selm Sorgen, das im Vorfeld den bundesweiten Appell „Wählt Demokratie“ geteilt hatte. Auch die beiden bislang bekannten Selmer Bürgermeisterkandidaten für die Kommunalwahlen am 14. September blicken auf das Ergebnis der Bundestagswahl mit Unruhe.
SPD und AfD fast gleichauf
Bürgermeister Thomas Orlowski hat am Sonntag ab 13 Uhr alle Wahllokale abgefahren: die im traditionell eher roten, vom Bergbau geprägten Selm und die in den beiden eher schwarzen, ländlicheren Ortsteilen Bork und Cappenberg: alles Zuschreibungen aus einer Zeit, als CDU und SPD noch große Volksparteien waren, denen das Wahlvolk oft ein Leben lang treu blieb - längst vergangene Zeiten.
Zur Bundestagswahl 2025 kam Orlowski auf seiner mittäglichen Rundfahrt durch einen Ortsteil Selm, in dem SPD und AfD nahezu gleichauf sind. Durch ein Bork, wo Schwarz-Rot zwar mit 52,68 Prozent die höchste Zustimmung im ganzen Stadtgebiet bekommen hat, ein Wahllokal (Förderzentrum Nord) aber auch die AfD zur stärksten Kraft bestimmt hat. Und durch ein Cappenberg, das immer noch sehr der CDU anhängt. Die einst dort große Zustimmung zur FDP (2021 fast 18 Prozent) hat sich verflüchtigt. Wenn es nach Cappenberg ginge, wären die Liberalen aber noch weiter im Bundestag vertreten und wäre in Berlin neben Schwarz-Rot auch eine schwarz-grüne Koalition möglich. So politisch heterogen das Stadtgebiet auch ist: Eines traf Orlowski überall an, wo er Station machte: die Sorge über eine zunehmende Polarisierung.
Orlowski: „Thews ist guter Partner“
„Ich freue mich sehr, dass Michael Thews uns ein viertes Mal im Bundestag vertreten wird, sagt der Bürgermeister einen Tag nach der Wahl. Der Lüner SPD-Abgeordnete sei ein wichtiger Partner, wenn es darum gehe, in Zeiten leerer Kassen Projekte umzusetzen. Etwa die Sanierung des Freibads, für die Thews beim Bund Geld locker gemacht hatte. In die Freude über den knappen Wahlsieg des Direktkandidaten mischt sich aber Frust: über das historisch schlechte Abschneiden der SPD und über die Gewinne der AfD, einer Partei, die in Selm zwar Zulauf hat, aber keinen Namen, keine Gesichter und keinen Ortsverband. Von Anstrengungen, einen solchen zu gründen, hat Orlowski bislang nichts gehört. „Aber ich halte das für wahrscheinlich.“ Umso wichtiger ist es ihm, dass die bisherigen Kräfte im Stadtrat „respektvoll miteinander umgehen“: etwas, das er bisweilen vermisse.

Mors: „Koalition muss jetzt liefern“
Heinz-Georg Mors (CDU), seinen Herausforderer bei der Kommunalwahl, kann er damit nicht meinen. Er ist nicht im Rat vertreten. Der Landwirt und Unternehmer engagiert sich bislang in anderen Ehrenämtern. Daher weiß er, was ihm auch in der Politik als zielführend erscheint: „Wenn man etwas bewegen will, helfen keine Alleingänge, sondern man holt am besten alle Gruppen an einen Tisch, um dann die Schnittmenge zu suchen.“ Über den Bundestagswahlsieg der CDU, die auch in Selm die Nase vorne hatte, freut er sich. Ein strahlender Gewinner sei die Union aber nicht. Mors sieht in einer Koalition der CDU mit der SPD zugleich eine Herausforderung und eine Chance, „die wir nicht vermasseln dürfen“: Wenn die beiden Parteien der Mitte „jetzt abliefern“, dann werden beide davon profitieren können. Wenn stattdessen der alte Streit lähmt und die neue Regierung strauchelt, „dann profitiert davon nur die AfD“. Ob das auch die Kommunalwahl belasten wird? Da ist sich Mors nicht sicher. „Denn eine Bürgermeisterwahl ist immer eine Personenwahl.“
Frühstückstreff und Kaffeeklatsch in der Awo
Gabriele Steinberg von der Awo beobachtet die politische Entwicklung mit Sorge. Ihr Rat: Sich nicht in politischen Lagern verbarrikadieren und sich zunehmend anfeinden, sondern sich begegnen und miteinander ins Gespräch kommen - zum Beispiel beim Kaffeetrinken mit den Awo-Senioren oder freitags beim öffentlichen Frühstückstreff. Zu schimpfen sei immer einfacher als aktiv zu werden. „Wir von der Awo wollen dagegen Gutes tun, für die, die nicht so gut gestellt sind.“ Jedem, auch Nichtmitgliedern, stehe dabei die Tür offen: dieselbe Tür, durch die auch am Sonntag die vielen AfD-Anhänger zur Wahlurne gingen.

