Apfelbaum spielt verrückt Lüner Apfelexperte Papius: „Das habe ich noch nicht gesehen“

Apfelbaum spielt verrückt: „Das habe ich noch nicht gesehen“
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Rund um Brambauer tun die Apfelbäume, was von ihnen Ende September/Anfang Oktober erwartet wird. Sie tragen Früchte, und das nicht zu wenig. „Wir haben schon 2,2 Tonnen gesammelt“, sagt Klaus Papius, der zusammen mit dem Arbeitskreis Umwelt und Heimat rund 250 Bäume auf zehn Streuobstwiesen rund um den Lüner Stadtteil betreut. Am Ende der Erntesaison im November dürften es etwa fünf Tonnen sein, meint er: „Ein gutes Durchschnittsjahr.“ Was ein Apfelbaum zehn Kilometer weiter nordöstlich treibt, ist dagegen alles andere als durchschnittlich. „Das habe ich auch noch nicht gesehen“, sagt Papius.

Der etwa drei Meter hohe Baum auf einer Schafsweide in Werne-Langern ist noch keine zehn Jahre alt. Bei Apfelbäumen, die 100 Jahre alt werden können, muss das als jung gelten. Vielleicht ist es daher jugendlicher Übermut, der den Weißen Winterglockenapfel - so heißt diese sehr alte Sorte - getrieben hat, so etwas Verrücktes zu machen.

Der Baum trägt große Früchte: glockenförmige, grün-gelbe Äpfel, die in wenigen Wochen geerntet werden können: so, wie es sich für einen Apfelbaum dieser Sorte gehört. Gleichzeitig treibt er aber Blüten: weiß-rosa strahlende Versprechen auf den Frühling, die im Herbst völlig aus der Zeit gefallen sind. An demselben Ast, an dem die Früchte hängen, umgarnen die Blüten die letzten Bienen, die ebenso irritiert wie dankbar zu sein scheinen angesichts der unerwarteten Nektarspende.

Rekordmonat September 2023

„Wenn der September noch donnern kann, so setzen die Bäume noch Blüten an“, lautet eine Bauernregel. Das Phänomen der Herbstblüte scheint also auch schon vorangegangenen Generationen vor Rätsel gestellt zu haben. Ob die Lösung tatsächlich mit Gewittern in Verbindung zu bringen ist? Von denen gab es zwar einige im September. Entscheidender als Blitz und Donner dürften für das Pflanzenwachstum aber Temperatur und Niederschlag sein.

Der September 2023 erwies sich als extrem warm und sehr sonnig. Nur 1959 war es laut dem Deutschen Wetterdienst noch sonniger. Gleichzeitig war der neunte Monat im Jahr auch überaus nass, zumindest in NRW. Das größte Bundesland verzeichnete das höchste Niederschlagsaufkommen. Die Wetterexperten aus Offenbach sprechen von „enormen meteorologischen Anomalien“ mit Blick auf das bundesweite September-Wetter. Eine sogenannte Omega-Wetterlage habe die hohen Temperaturen unter ständigem Hochdruckeinfluss beschert „auf einem bisher in den Annalen der Wetteraufzeichnungen unerreichten Wert“. Ein „Rekordmonat“, der den Winterglockenapfel offenbar aus den Tritt gebracht hat.

Frucht und Blüte Seite an Seite und das im Oktober: Der Apfelbaum auf einer Langerner Streuobstwiese spielt verrückt,
Frucht und Blüte Seite an Seite und das im Oktober: Der Apfelbaum auf einer Langerner Streuobstwiese spielt verrückt, © Sylvia vom Hofe

Professorin Annette Menzel untersucht an der Technischen Universität München, wie sich der Klimawandel auf die Natur auswirkt. Sie hat das Phänomen der Obstbaumblüte im Herbst bereits 2015 beschrieben. Und zu erklären versucht. Das Jahr 2015 war geprägt durch große Trockenheit im Sommer, als Notmaßnahme hatten dürstende Bäume schon im Sommer Blätter abgeworfen. Durch eine solche „Phase der reduzierten Aktivität im Sommer“ seien sie „durcheinander gekommen“, wie die Wissenschaftlerin dem Münchner Merkur sagte. Als es im Herbst regnete und endlich wieder Wasser zur Verfügung stand, es aber gleichzeitig noch warm und hell blieb, hätten Mechanismen gegriffen wie nach einem Winter. Bäume trieben neue Blätter aus - und Blüten gleich dazu.

Angstblüte in Folge von Stress

Die Abteilung Stadtgrün der Stadt Heidelberg fand drastischere Worte für das Phänomen, das dort im Oktober 2022 an Kastanien zu beobachten war: Die städtischen Gärtner sprachen von „Angstblüte“, ein ernst zu nehmendes Stresssignal. Geschädigte Bäume spürten, dass es mit ihnen zu Ende gehe. Daher versuchten sie noch einmal mit letzter Kraft und zur Unzeit, für Samen zu sorgen, um die Art zu erhalten.

Dass es so ernst um ihn steht, lässt der Langerner Apfelbaum mit dem unzeitgemäßen rosa Blütenkleid nicht erkennen. Zumindest nicht oberirdisch. Aber vielleicht gebe es Wurzelschäden, meint Klaus Papius. Wer weiß. Fest steht in jedem Fall, dass die Blüte zwar schön ist, aber gleichzeitig vertane Liebesmühe. Denn aus den kleinen Blüten werden sich keine Früchte entwickeln können und damit kein Samen, obwohl der Deutsche Wetterdienst für die nächsten Tage weiter ruhiges Herbstwetter mit Temperaturen von um die 20 Grad und mehr vorhersagt. Der Wintereinbruch wird kommen, bevor sich aus der Blütenachse – der Verbindung zwischen dem Stiel der Blüte und den eigentlichen Blütenorganen – stolze Äpfel gebildet haben, wie sie wenige Zentimeter weiter zu bewundern sind.

Reife Früchte - in diesem Fall Hagebutten - und frische Blüten: Dieses Phänomen zeigt auch dieser Wildrosenstrauch in Cappenberg. Er befindet sich nicht nur räumlich in der Nähe zum Langerner Apfelbaum. Beide Pflanzen sind eng miteinander verwandt.  Äpfel sind Rosengewächse.
Reife Früchte - in diesem Fall Hagebutten - und frische Blüten: Dieses Phänomen zeigt auch dieser Wildrosenstrauch in Cappenberg. Er befindet sich nicht nur räumlich in der Nähe zum Langerner Apfelbaum. Beide Pflanzen sind eng miteinander verwandt. Äpfel sind Rosengewächse. © Sylvia vom Hofe

In der Regel verhindern Hemmstoffe, dass die bereits im Sommer gebildeten Knospen anschwellen und vor April oder Mai öffnen. Diese Hemmstoffe bauen sich erst dann ab, wenn auf die Knospen eine gewisse Zeit lang Kälte eingewirkt hat. Dieses innere Kältebedürfnis ist je nach Obstart und -sorte unterschiedlich groß. Solche mit niedrigem Kältebedürfnis - neben Apfel auch Kirsche und Pflaume - lassen sich für Barbarazweige verwenden. Sie werden nach altem Brauch am Barbara-Tag (4. Dezember) geschnitten, in die Vase gestellt und blühen zu Weihnachten.

Die Herbstblüten des eigenwilligen Langerner Glockenapfelbaums werden dann längst abgefallen sein. Seine Früchte, die daneben reifen, werden aber als Weihnachtsäpfel auf dem bunten Teller eine gute Form abgeben. Bis zum Frühjahr lassen sie sich im kühlen Keller oder in einer Styroporbox draußen lagern.

Apfelsaft aus Brambauer

Klaus Papius und seine Mitstreiter vom Arbeitskreis Umwelt und Heimat haben etwas anderes vor mit den Äpfeln, die sie zurzeit fast täglich sammeln. Das Gros davon lässt die Naturfördergesellschaft des Kreises Unna zu naturtrübem Apfelsaft pressen. Kisten (6 Flaschen) können für 10,90 Euro inklusive Pfand erworben werden: in Werne bei Lebensmittel Overmann, Steinstraße 2, und in Lünen im Bioland Hofladen Schulze-Wethmar, Waldweg 3. Fünf-Liter-Kartons mit Apfelsaft aus Brambauer gibt es für 7 Euro auch direkt am Bio-Garten Brambauer am Hasenweg. Wer daran Interesse hat, sollte sich vorher bei Klaus Papius melden unter 0171/9131806. Er beantwortet auch Apfel-Fragen - nur nicht zur Apfelblüte im Oktober.

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