Weil die Bergarbeiter aus Selm-Beifang ihren Arbeitsweg verkürzen wollten, zogen sie zwischen zwei Haltestellen die Notbremse. Eine Geschichte von Pendlern, die mehr wollten.
Als Maja Wujciechowski (30) das erste Mal mit dem RB 51 von Dortmund nach Selm fuhr, war sie noch erstaunt. „Verwunderlich ist es schon, dass es in diesen Mini-Abschnitten drei Bahnhöfe gibt, während es in größeren Orten nicht mal zwei gibt“, sagt Wujciechowski. Sie pendelt seit anderthalb Jahren von Dortmund nach Selm, weil sie am Städtischen Gymnasium ihr Lehramtsreferendaritat absolviert.
Gemeint sind die drei Bahnhöfe, die zu Selm gehören. Im Ortsteil Bork, in Selm und in Selm-Beifang. Entfernung mit dem Zug zwischen Bork und Beifang: 3 Minuten, zwischen Beifang und Selm: 2 Minuten. Beifang und Selm sind nur einen Kilometer voneinander entfernt.
Doch zufällig ist dieser dritte Bahnhof nicht entstanden. Dahinter steckt die Geschichte des geschickten und schließlich auch erfolgreichen Versuchs, von Selmer Bergleuten ein bisschen mehr Freizeit aus ihrem langen Arbeitstag herauszuschlagen. Auch Bier, Zigarrren und die Kneipenkultur spielen in dieser Geschichte eine Rolle.
Wenige steigen aus, wo früher viele rauswollten
Doch von vorne: Wo heute ein graues Bahnhofsgebäude steht, in dem keine Fahrkarten mehr verkauft werden und in dem eine alte Beschriftung darauf hinweist, dass drinnen im Gebäude mal eine Radstation war. Wo draußen graue, drahtige Sitzbänke auf Wartende warten und wo einmal die Stunde im Schnitt höchstens eine Handvoll Menschen aussteigen. Da befanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg nur Schienen. Hier führt seit 1875 die Bahnlinie Dortmund-Gronau entlang und hierher wünschten sich Hunderte von Bergleuten aus Beifang sehnlichst einen Bahnhof herbei. Seit der Schließung der Zeche Hermann im Jahr 1926 müssen sie in Zechen nach Lünen oder Dortmund pendeln.
Was die Kumpel ärgert: Zweimal am Tag fahren sie an ihrem Zuhause in Selm-Beifang vorbei. Denn damals gibt es nur in Selm und Bork einen Bahnhof. Jeden Morgen müssen die Kumpel aus Beifang einen Kilometer zum Selmer Bahnhof laufen. Kehren sie nach getaner Arbeit abends zurück, sehen sie ihr Zuhause am Zugfenster vorbeirauschen. In Selm angekommen müssen sie den Fußmarsch nach Beifang antreten. „Sie müssen sich vorstellen, die haben alle in Beifang gewohnt und dann mussten die bis Selm zu Fuß laufen“, berichtet Wolfgang Boeck.
Irgendwann kam die zündende Idee
Wolfgang Boeck (72) ist Ende der 1940er-Jahre noch ein kleiner Junge. Oft ist er in jener Zeit auf dem Fahrrad-Gepäckträger seines Vaters unterwegs. Morgens sieht er die Bergleute Richtung Selmer Bahnhof laufen. Abends kehren sie zurück nach Beifang. Die meisten von ihnen müde - und zu Fuß. „Die Reichen hatten ein Fahrrad, aber die meisten ja nicht“, sagt Wolfgang Boeck.
Morgens einen Kilometer hin, abends einen Kilometer zurück. Das stinkt den Kumpel und damit soll Schluss sein. Es ist nicht belegt, wer die zündende Idee hatte. Vielleicht entstand der Gedanke auch bei einem Bier nach der Schicht. Fest steht: Irgendwann kam der Tag, als die Kumpel beschlossen, dass der Zug einen Zwischenstopp in Selm Beifang einlegen sollte. Einer zog die Notbremse, der Zug hielt, die Kumpel stiegen aus. Vor der eigenen Haustür.
Der Plan ging auf und was mit einer Einzeltat begann, wurde System. „Es war so, dass die sich vorher abgesprochen haben auf dem Bahnsteig, wenn sie auf den Zug in Lünen oder Dortmund gewartet haben“, erinnert sich Wolfgang Boeck. Der Zug hielt nach dem Ziehen der Notbremse an. Die Türen waren aber nicht - so wie heute - verschlossen, sondern hatten eine Klinke, die sich leicht herunterdrücken ließ. So konnten die Beifanger Bergleute problemlos den Zug verlassen. „‘Wer hat die Notbremse gezogen?‘ Das konnte doch keiner wissen“, sagt Wolfgang Boeck. Es waren einfach zu viele.
Heute eine Straftat
Heute die Handbremse zu ziehen, ist kein Kavaliersdelikt. „Es kann sich dabei um einen gefährlichen Eingriff in den Bahnbetrieb handeln“, sagt Volker Stall von der Bundespolizei in Dortmund. Das treffe zum Beispiel ein, wenn jemand stürzt und sich verletzt, weil die Notbremse ungerechtfertigerweise gezogen wurde.
Dabei kommen Freiheitsstrafen von 6 Monaten bis zu 10 Jahren in einem besonders schweren Fall in Frage, wenn zum Beispiel ein Zug entgleist ist. Wurde niemand gefährdet, erfüllt das ungerechtfertigte Ziehen der Notbremse immer noch den Straftatbestand des Missbrauchs von Notrufen. Dann liegt das Strafmaß zwischen zwei Jahren Haft und einer Geldstrafe, die sich nach dem Einkommen des Verurteilten richtet.
Eine Statistik darüber, wie oft die Notbremse gezogen wird, gibt es weder bei der Bahn noch bei der Bundespolizei. „Es kommt allerdings regelmäßig bei Fußballspielen vor“, sagt Volker Stall. Zum Beispiel, um die Konfrontation mit gegnerischen Fans an einem Bahnhof zu suchen, wo die eigene Bahn nicht halten würde oder auch, um die Ankunft der gegnerischen Fans zu verzögern.
Viele Industriearbeiter
Damals, in den 1940er-Jahren, geht es aber nicht um Fußball. Sondern um eine große Menge Menschen, die nicht mehr an ihren Wohnungen vorbeifahren und anschließend wieder zurücklaufen wollten. Wie viele Menschen damals auf die Bahn angewiesen sind, beweist ein Brief, den der Selmer Amtsdirektor Karl Wierling am 6. Mai 1947 an die Reichsbahndirektion Münster und Essen richtet: „Die sich bereits seit langem überall zeigende Überfüllung der Personenzüge hat in letzter Zeit einen solchen Umfang angenommen, daß wirklich von einem unhaltbaren Zustand gesprochen werden kann. Auf den verschiedensten Linien sind die Verhältnisse mehr oder weniger gleich, nirgends aber sind sie so katastrophal wie auf der Strecke Dortmund-Gronau und dort insbesondere zwischen den Stationen Lünen-Dülmen. Mehr als sonstwo ist hier die Bevölkerung auf die Benutzung der Bahn angewiesen.“
Wierling führt dafür die Tatsache an, dass in Selm viele Industriearbeiter leben, es aber keine Industriebetriebe gebe, auch keine höheren Schulen. So verbleibe für diese Menschen nur das Pendeln. „Leider sind die Züge beim Eintreffen immer schon so stark besetzt, daß ein Zusteigen nicht selten zur Unmöglichkeit wird“, schreibt Wierling weiter, wie Unterlagen aus dem Archiv der Stadt Selm belegen.
Der Bahn wurde es zu viel
Genaue Unterlagen darüber, wie oft die Notbremse gezogen wurde und in welchen Jahren, sind in den Archiven nicht mehr zu finden. Auch nicht aus dem Schriftverkehr mit der Bahn, der es irgendwann im Jahr 1948 zu viel wurde. Sie wollte das ständige Notbremseziehen nicht mehr hinnehmen und genehmigte schließlich im Jahr 1948 einen Haltepunkt. Das bedeutet, ab da an hielten Züge offiziell in Beifang. Die Dreistigkeit und Beharrlichkeit der Kumpel hatte gesiegt.
Wierling, der bis 1959 Amtsdirektor der Stadt Selm ist, wird in den folgenden Jahren noch mehrere Briefe an die Bahn richten, diese sind auch dokumentiert. Er will mehr als nur einen Haltepunkt. Er will, dass in Selm Beifang ein Bahnhofsgebäude gebaut wird.
Die Kneipe am Bahnhof
Emil Boeck, der Vater von Wolfgang Boeck, bekommt irgendwann Wind davon, dass in Beifang ein Bahnhof gebaut werden soll. Und er handelt schnell. Direkt stellte er sich bei der Bahndirektion in Münster vor. Er hat einen Plan. Wenn in Beifang ein Bahnhof entsteht, dann will er dort eine Gaststätte betreiben. Er ist gelernter Wirt und betreibt die Gaststätte Hermannshöhe. Die aber beansprucht der Vorbesitzer nun zurück und Emil Boeck setzt auf den neu entstehenden Bahnhof Beifang. Er bekommt den Zuschlag und so entsteht schließlich auch die Gaststätte zum Beifanger Bahnhof.

Die Gastwirtschaft von Wolfgang Boecks Eltern am Bahnhof Beifang, bevor das Bahnhofsgebäude gebaut wurde © Wolfgang Boeck

Innensicht auf die Gastwirtschaft. Hier zu sehen: Wolfgang Boecks Vater Emil Boeck © Wolfgang Boeck
Bevor das Bahnhofsgebäude stehen wird, werden noch etwa fünf Jahre vergehen. Die Bahn stellt in der Zwischenzeit Baubuden am provisorischen Bahnhof auf. In den Baubuden wird zum Beispiel der Zugwärter untergebracht und die Gaststätte der Boecks. Mit Ausschank nach draußen hin und wenigen Plätzen im Inneren. Auch ein Telefon hängt an der Wand: Die Nummer besteht aus nur zwei Zahlen: 25.
Ein gutes Geschäft sei das gewesen, sagt Wolfgang Boeck. Viele durstige Kumpel, viel Laufkundschaft. „Ein Bahnhof, das war damals noch was Gutes“, sagt er. „Zu der Zeit war es so: Wenn die Arbeiter fertig waren und nach Hause kamen, sind sie nicht sofort nach Hause gegangen“, berichtet er weiter. „Die haben dann erst mal Einkehr gehalten, und haben in Ruhe noch ein Schwätzchen gehalten und haben ein Bier getrunken oder zwei.“ Auch geraucht wurde viel. Die Boecks verkaufen damals auch eigens für sie hergestellte Zigarren mit dem klangvollen Namen „Bahnhof Notbremse“. Einen Karton davon hat Wolfgang Boeck noch immer zu Hause.
Spott in der Presse
Den Menschen vor Ort sind die Baubuden aber zur damaligen Zeit ein Ärgernis. „Nach wie vor hofft die Beifanger Bevölkerung, daß die Bundesbahn eines Tages mit der Errichtung eines würdigen Bahnhofsgebäudes beginnen wird“, schreibt zum Beispiel die Westfälische Rundschau im März 1950. „Der Eindruck ist auch so trostlos, daß Abhilfe geschaffen werden muss“, insistiert im März 1951 erneut Amtsleiter Karl Wierling in einem Brief an die Bahn. Die Baubuden nennt er Baracken und verweist auf einen Artikel, der einige Monate zuvor in den Ruhr Nachrichten erschienen ist. Dort hatte der Autor spöttisch bemerkt, dass der Bahnhof „durch den Anbau einer weiteren Baracke vergrößert“ werde. Weiter heißt es: „Der kuriose Anblick ist damit noch augenscheinlicher geworden und der Volksmund scheint doch nicht ganz unrecht zu haben, wenn er diese Anlage als ‚Zigeunerbahnhof‘ bezeichnet.“

Ein Ausschnitt aus den Ruhr Nachrichten vom 23. Januar 1953 © Repro: Sabine Geschwinder
Im Jahr 1952/53 erhört die Bahn schließlich die Bitten Wierlings. Zum Richtfest am 28. Januar 1953 schreiben die Ruhr Nachrichten: „Bürgermeister Liebetrau machte humorvoll darauf aufmerksam, daß man nun bald an den Namen denken müßte. Er schlage ‚Beifang-Notbremse vor, denn nur durch das fortdauernde Ziehen der Notbremse habe sich die Bahn veranlaßt gesehen, diese Station einzurichten“, heißt es dort.
Endlich hatten die Beifanger ihren Bahnhof. Und die Boecks zogen mit ihrer „Gastwirtschaft zum Beifanger Bahnhof“ um - aus der Holzbaracke in einen festen Raum direkt im Bahnhofgebäude. Bis 1965 betrieb Emil Boeck die Wirtschaft. Als er an Krebs erkrankte, musste er die Kneipe schließen.
Ein Name wird zur Legende
Offiziell erhielt der Bahnhof Selm-Beifang niemals den Namen Beifang-Notbremse. Doch inoffiziell ist dieser Name längst eine Legende unter Eisenbahnfreunden und Heimatgeschichtlern geworden. Wolfgang Boeck, der anders als viele seiner ehemaligen Klassenkameraden nicht Bergmann, sondern Braumeister wurde, profitierte ebenfalls von der Haltestelle.
Wenn er von Thier- und später Hansabrauerei aus Dortmund nach Hause kam, musste er nur aussteigen und die Tür aufmachen. Die Wohnung von ihm und seinen Eltern befand sich direkt über der Bahnhofskneipe. Kein Pendeln für den Bergbau - sondern Pendeln für das Bier. Die Arbeit als Braumeister führte ihn nach Südamerika, nach Spanien und Frankreich und schließlich nach Andernach in Rheinland-Pfalz, wo er heute lebt und seinen Ruhestand genießt.

Die Grundsteinlegung für den Bahnhof, vorne mit Mütze: Wolfgang Boeck. © Wolfgang Boeck
Die Geschichte, die sich hinter dem Bahnhof Selm-Beifang verbirgt, hat Maja Wujciechowski auch längst irgendwann von einem Lehrer-Kollegen erzählt bekommen. So grob zumindest. Sie weiß: Diese Geschichte hat mit Bergarbeitern und einer Notbremse zu tun.
Ihre persönliche Pendel-Geschichte endet aber erst einmal. In der vergangenen Woche hat sie ihre Examensprüfung absolviert und ist mit ihrem Referendariat fertig. Wohin es dann geht, weiß sie noch nicht. Klar ist nur: Erst mal ist dann mit dem Pendeln Schluss.
Die Geschichte des Bahnhofs Beifang ist so ungewöhnlich, dass sie Teil einer Ausstellung wird. Diese trägt den Titel „Geheimsache Bahn“ und beschäftigt sich mit Mythen und Legenden aus über 180 Jahren Eisenbahngeschichte. Die Ausstellung eröffnet am 14. Dezember im DB Museum in Nürnberg.
Ich bin neugierig. Auf Menschen und ihre Geschichten. Deshalb bin ich Journalistin geworden und habe zuvor Kulturwissenschaften, Journalistik und Soziologie studiert. Ich selbst bin Exil-Sauerländerin, Dortmund-Wohnerin und Münsterland-Kennenlernerin.
