Wo „Bündnis 90/Die Grünen“ zurzeit noch draufsteht, sind in Selm nicht mehr die Grünen drin. Die bislang dreiköpfige Fraktion dieses Namens im Stadtrat besteht seit Donnerstag (21.11.) nur noch aus zwei Frauen: die eine, Natalie Stefanski, hatte bereits vor rund einem Jahr ihr Parteibuch abgegeben. Der anderen, Marion Küpper, soll es abgenommen werden. Gegangen ist die bisherige Fraktionsvorsitzende, Christina Grave-Leismann, die den Ortsverein der Grünen hinter sich stehen hat.
Wie unmittelbar vor der Selmer Ratssitzung bekannt geworden war, strebt der Kreisvorstand von Bündnis 90/Die Grünen ein Parteiausschlussverfahren gegen Marion Küpper an. Der Grund: ihre Rolle in der Abrechnungsaffäre. Küpper war zur Last gelegt worden, mehr als ein Jahr zu Unrecht Entschädigungen für ihre politische Tätigkeit kassiert zu haben: mehr als 10.000 Euro. Ein Urteil wegen Betrugs ist zwar nie gefallen, es gab aber auch keinen Freispruch. Die Einstellung des Verfahrens gegen die Selmerin erfolgte unter der Auflage, 7100 Euro zurückzuzahlen: ein Schuldeingeständnis, von dem die Angeklagte aber immer noch nichts wissen will.
Der Kreisvorstand spricht von „Veruntreuung von Steuergeldern“ und „andauernder Täuschung unserer Parteimitglieder“. Christina Grave-Leismann von „tiefer Enttäuschung“ und „massivem Vertrauensverlust bei den Parteimitgliedern“. Für sie sei es, „moralisch geboten“ zu gehen.

Zusammenarbeit eingestellt
Die erste Sitzung des Selmer Stadtrates in der aufwendig umgebauten Burg Botzlar begann am Donnerstagabend also gleich mit einem Paukenschlag. Christina Grave-Leismann bat, eine Erklärung verlesen zu können: ihren Abschied aus der Fraktion.
„Gruppe von Abgeordneten mit ähnlichen politischen Ansichten“: So definiert die Bundeszentrale für politische Bildung den Begriff Fraktion. In Selm, gab Grave-Leismann zu verstehen, kann wohl schon lange nicht mehr von diesen „ähnlichen politischen Ansichten“ die Rede sein. Im Gegenteil. Das hat nicht nur mit der Abrechnungsaffäre zu tun.
Eine Zusammenarbeit zwischen dem Ortsverein von Bündnis 90/Die Grünen und Stefanski sowie Küpper finde schlichtweg nicht statt, sagte die scheidende Fraktionschefin. Eine solche Zusammenarbeit sei aber „unerlässlich für eine effektive und effiziente Entscheidungsfindung“. Unterschiedliche Positionen innerhalb von Partei und Fraktion führten dagegen „zu Verwirrung und Unsicherheit“, dem Gegenteil der gewünschten „Transparenz und Klarheit“.
Grave-Leismann sagte, für sie sei es immer schwerer geworden, die Interessen der Partei innerhalb der Fraktion zu vertreten. Eine Feststellung, die offenbar zahlreiche Parteifreundinnen und -freunde teilen. Sie waren in großer Zahl in die Burg Botzlar gekommen. Von den Besucherplätzen aus verfolgten sie im neu eingerichteten Ratssaal, wie sich Grave-Leismann von Marion Küpper distanzierte, hinter die sich sie und der Ortsverein bislang trotz heftigen Gegenwinds gestellt hatten, anders als der Kreisverband. Der hatte unmittelbar nach Bekanntwerden der Vorwürfe Ende 2021 gefordert, ihr Mandat niederzulegen
Küpper: „Kein Eingeständnis“
„Ausschlaggebend für meinen Entschluss zum jetzigen Zeitpunkt ist das Schuldeingeständnis von Marion Küpper in der Abrechnungsaffäre“, so Grave-Leismann. Deren Umgang mit den gegen sie erhobenen Vorwürfen sei „von Anfang an schwierig“ gewesen. Denn sie habe ihre Unschuld beteuert, sei aber zu keiner offenen, aufrichtigen Aussprache bereit gewesen. „Das Schuldeingeständnis hat deshalb zu einer tiefen Enttäuschung und vor allem einem massiven Vertrauensverlust bei den Parteimitgliedern geführt“, erklärte Grave-Leismann.
Die angesprochene Küpper, die direkt neben ihr saß, hörte es stumm. Erst einen Tag später äußerte sie sich auf Anfrage und stellte dabei die Dinge auf den Kopf - sowohl im Fraktionsstreit als auch im Rechtsstreit. „Ich bin tief enttäuscht“, sagte Küpper am Telefon. Grave-Leismann habe sie vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie habe sie zwar im Vorfeld über ihren Entschluss informiert, aber da habe der längst festgestanden. Den Hinweis auf das Schuldeingeständnis vor dem Schwurgericht am Amtsgericht Unna verstehe sie nicht. „Ich habe doch kein Schuldeingeständnis abgegeben. Das kann ich gar nicht“, beharrt sie immer noch. Die Öffentlichkeit war ausgeschlossen bei dem Rechtsgespräch, dem die Einstellung des Verfahrens vorausgegangen war.
Zu nahe am BSW
Ein weiterer Vorwurf der Fraktion: Marion Küppers Nähe zum Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). In der Landschaftsversammlung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) bildet sie eine Fraktion mit dem BSW, nachdem die Grünen sie dort nicht aufgenommen hatten. Für Grave-Leismann ist damit „eine rote Linie überschritten“. Küpper begründet die Kooperation im LWL vor allem mit pragmatischen Gründen. Im Team könne sie mehr bewirken als als Einzelkämpferin. Dennoch sehe sie ihre politische Heimat nach wie vor bei den Grünen - anders als Natalie Stefanski.
Sachkündige Bürger treten aus
Sie hatte die Grünen aus Ärger über die bundespolitische Ausrichtung verlassen. Wie Küpper auch, sieht Stefanski Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch - etwas, das aber nicht im Selmer Stadtrat entschieden wird. Dort wollen beide weiter ihr Mandat ausüben, isoliert von den einstigen Wegbegleitern. Denn auch die von den Grünen vorgeschlagenen sachkundigen Bürgerinnen und Bürger werden, wie Grave-Leismann sagte, mit den beiden nicht weiter zusammenarbeiten und aus den Ausschüssen austreten.