Ein Stein auf dem Grabstein. Im Judentum ist es Sitte, beim Besuch der verstorbenen Lieben auf dem Friedhof genau einen solchen zu hinterlassen - als Zeichen dafür, dass man dort gewesen ist. Dass man an den Verstorbenen gedacht hat. Der 9. November ist in Deutschland ein Tag, an dem zumindest gedanklich viele Menschen einen Stein auf die Gräber verstorbener Juden legen.
Es ist ein dunkler Tag in einer sowieso schon finsteren Episode der deutschen Geschichte: Am 9. November 1938 brannten die Synagogen im Land. Menschen zogen auf die Straße, plünderten, verwüsteten, zerstörten von Juden betriebene Geschäfte, zogen Menschen aus ihren Wohnungen, steckten ihre Glaubensstätten in Brand. Etwa 400 Menschen jüdischen Glaubens starben in der Nacht vom 9. auf den 10. November. Über 1400 Synagogen wurden zerstört.
Borker Synagoge auch Ziel von Zerstörungswütigen
Auch das Geschäft der Familie Portje in Selm-Beifang - ein Laden mit Manufakturwaren - brennt in der Nacht vom 9. auf den 10. November. Vorher hatten NS-treue Selmer es geplündert.
Die Synagoge in Bork ist ebenfalls Ziel des wütenden Mobs. „In der Nacht des 9. November 1938 wurde auch die Borker Synagoge geplündert und ihre Inneneinrichtung zerstört“, berichtet der Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorte in NRW. Aber: „Die enge Bebauung in Bork bewahrte die Synagoge vor der völligen Zerstörung während der Reichspogromnacht: Ein Brand hätte schnell auf die benachbarten Häuser übergreifen können. So ist das Gebäude erhalten geblieben“, heißt es auf der Homepage „Verwischte Spuren“, die das Leben von Juden in Selm, Lünen und Werne unter die Lupe nimmt.
„Ein weiterer Grund, warum das Gebäude nicht angezündet wurde, mag in den Besitzverhältnissen liegen: Bereits am 7. Oktober 1938 musste Isaak Heumann als Vertreter der jüdischen Gemeinde Bork das Gebäude für 900 Reichsmark an einen Brennstoffhändler verkaufen“, steht dort außerdem.

Isaak Heumann war ein Schneider in Bork. Zusammen mit seiner Frau Friederica betrieb er ein Manufakturwarengeschäft. Zumindest so lange, bis die Nationalsozialisten die Macht ergriffen und nach und nach die Verfolgung der Juden in Deutschland vorantrieben. Schon 1936 musste die Familie Heumann ihr Geschäft verkaufen - zwangsweise. Die Lebensgrundlage war der Familie damit genommen.
Wie ihnen ging auch den anderen jüdischen Familien der kleinen Gemeinde in Bork und Selm. Die Sterns. Die Weinbergs. Die Wollenbergers, die Familien Weiss, Levin oder Frank. An einige von ihnen erinnern heute so genannte Stolpersteine: In den Boden eingelassene kleiner Tafeln, die vor den früheren Wohnorten von Juden an ihr Leben erinnern - und an ihren gewaltsamen Tod. Denn mit Mord enden auch die meisten Lebensgeschichten der Juden aus Selm.
Zumindest die Familie von Isaak Heumann konnte sich teilweise retten: „Zwei der drei Kinder überlebten den Holocaust im Ausland: Herbert emigrierte 1938 nach Kolumbien und Jeanette 1939 nach England. Isaak Heumann verzog 1939 nach Odenkirchen. Er wurde am 15. Juni 1942 nach Sobibor deportiert und ermordet. Das Schicksal des älteren Sohnes Carl ist unbekannt. Er zog 1924 nach Recklinghausen, wo sich seine Spur verliert“, steht bei „Verwischte Spuren“.
Das letzte Grab auf dem jüdischen Friedhof in Selm
Friederica Heumann, die Mutter dieser vier Kinder, war schon im Jahr 1936 verstorben. Sie - von der Familie liebevoll Ricka genannt - ist die letzte Frau, die auf dem jüdischen Friedhof zwischen Selm und Bork beerdigt wurde. Ihr Sohn Hermann kehrte noch mal nach Bork zurück, um für seine Mutter ein Grabkissen aufstellen zu lassen.
Das liegt heute noch auf dem Friedhof, der - genau wie die Synagoge - ein Gedenkort ist.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist zum ersten Mal am 9. November 2021 erschienen.