
© Illustration Niehaus
Der Tag, an dem der rote Kater nicht nach Hause kam
Tod von Haustieren
Wie trauern Kinder, wenn ihr Haustier stirbt? Vera weiß, wie schwer der Abschied sein kann. Das ist die Geschichte ihres Katers Sammy, der nur ein Jahr alt wurde. Sie hat viele unserer Leser interessiert.
Als der kleine rote Kater und seine noch kleinere graue Schwester im Jahr 2015 bei ihnen zu Hause einziehen, ist meine Nachbarin Vera Engelkamp acht Jahre alt. Ihr Bruder Nick ist elf. Für die Grundschülerin geht ein Traum in Erfüllung, als ihre Eltern erlauben, die beiden wuscheligen Kätzchen aus dem Wurf einer Bekannten zu adoptieren.
Die Kinder geben den Katzengeschwistern ihre Namen: „Sammy“ und „Micky“ machen den Haushalt der Familie komplett – und mischen ihn gründlich auf. Zum Glück ist Golden-Retriever-Hündin Maja ein geduldiges Tier. Stundenlang dürfen die Kätzchen auf ihr herumklettern. Und sich sogar zum Schlafen ankuscheln.

Vera ist glücklich: Micky (l.) und Sammy sind da. © Engelkamp
Schlaf ist nur noch eine Erinnerung
Apropos schlafen: Ungestörter Schlaf ist seit der Ankunft der Katzen für Familienvater Jan nur noch eine süße Erinnerung. Denn Sammy und Micky, die tagsüber viele Stunden schlafen, toben bevorzugt nachts. Und benutzen seine Füße, die unter der Bettdecke hervorschauen, regelmäßig als Kletterhilfe.
Die Kätzchen wachsen. Die graue Micky ist zierlicher als ihr großer Bruder, aber sie wird die bessere Jägerin. Keine Maus ist vor ihr sicher; selbst vor Ratten macht sie nicht halt.

Erwischt! Ratten und Mäuse haben bei den Katzen keine Chance. © Illustration Niehaus
Bei ihren Versuchen, die eigene Garage und sämtliche Nachbarsgaragen von Mäusen zu befreien, wird sie häufig versehentlich eingeschlossen. Dann laufen Vera und meine Jungs gemeinsam die Siedlung ab und klingeln bei den Nachbarn. Spätestens am nächsten Tag ist Micky meist gefunden. Und bringt stolz die Beute nach Hause.
Ein echter Schmusekater
Auch beim Klettern geraten die Katzen in Schwierigkeiten. Irgendwann steckt Sammy kopfüber in einem offenen Fallrohr fest und wird in letzter Sekunde von einem Bauarbeiter herausgezogen. Micky klettert nachts gern aufs Hausdach, auf dem sie dann so lange schreit, bis Veras Papa wach wird und sie durchs Dachfenster rettet.

Micky ist eine gute Mäusefängerin. © Martina Niehaus
Während Micky scheu bleibt, ist Sammy ein echter Schmusekater. Er verfolgt Vera auf Schritt und Tritt, macht mit ihr Hausaufgaben, schläft auf ihrem Kopfkissen. Und klettert mit ihr zusammen auf dem großen Baum im Garten herum.
Selbst ihren Schulweg macht die Drittklässlerin in Begleitung: „Morgens hat Sammy immer gewartet, wenn ich mein Rad aus dem Schuppen geholt habe“, erzählt Vera heute. Micky läuft Vera dann entgegen, wenn die Schule aus ist.

Im Baum klettern Kinder und Katzen gerne herum. © Illustration Niehaus
Von Anfang an ist der Familie klar: Freilaufende Katzen haben ein glückliches Leben. Aber sie leben auch gefährlich. „Das Risiko sind wir immer eingegangen“, erzählt Veras Mutter Oxana. „Wir wollten sie nicht in der Wohnung einsperren.“
Eines Morgens sitzt Sammy nicht am Schuppen
Obwohl er kastriert ist – und daher bestimmt keine heimlichen Verabredungen mit Nachbarskatzen hat – , unternimmt Sammy immer längere Streifzüge. Dabei bleibt er auch schon mal über Nacht weg. Vera macht das nicht viel aus. Sie weiß: Morgens, wenn sie zur Schule muss, sitzt ihr Kater da und wartet auf sie.

Kuschelstunde: Sammy und Hündin Maja. © Engelkamp
Dann, irgendwann im Spätsommer 2016, sitzt Sammy morgens nicht am Fahrradschuppen. Auch nicht am nächsten Tag. Und nicht am übernächsten. Die Familie macht sich Sorgen. „Das kannten wir so nicht, dass er mehrere Tage wegbleibt“, erzählt Vera. Wieder suchen die Nachbarskinder die Garagen in der Siedlung ab. Und sie hängen Zettel an Laternen auf, mit einer Beschreibung des roten Katers.

Der rote Kater Sammy wurde nur ein Jahr alt. Seine Besitzerin Vera war neun, als sie ihn beerdigen musste. © Engelkamp
„Ich habe einen roten Kater gesehen. Im Graben.“
Fünf Tage später, als die Familie abends von einer Radtour nach Hause kommt, blinkt der Anrufbeantworter. Vater Jan hört ihn allein ab. „Es war eine Nachbarin, die unsere Zettel gelesen hatte. Sie sagte, sie habe einen roten Kater unten an der großen Kreuzung im Graben liegen sehen“, erinnert er sich.
Mit dem Rad, das noch in der Einfahrt steht, fährt er nachsehen. Als er zurückkommt, ist er kalkweiß im Gesicht. Er hat den roten Kater gefunden. Sammy steckt jetzt in einer Plastiktüte in der Fahrradtasche. Einer ziemlich kleinen Fahrradtasche.

Der Anruf kommt an einem Donnerstag: „Ihr Kater liegt im Graben.“ © Illustration Niehaus
Jan geht direkt zu Vera und Nick, die mit meinen Jungs im Garten sitzen und gerade neue Laternenzettel beschriften. „Ich muss euch was Schlimmes sagen. Sammy ist von einem Auto überfahren worden.“
Vera läuft laut weinend ins Haus. Meine Jungs sind still und erschrocken und machen große Augen. Veras Bruder Nick ist wütend. „Scheißautofahrer“, schreit er mit Tränen in den Augen. Dann möchte er Sammy sehen. Doch sein Vater erlaubt es ihm nicht. Nicht nach fünf heißen Sommertagen in einem Graben.
Ein kleines Bündel in der Kuscheldecke
Im hinteren Teil des Gartens schaufelt Veras Papa ein Loch. Ihre Mama findet eine Kuscheldecke, ich hole die Blumen aus unserer Vase. Alle stehen dabei, als Jan das kleine Bündel in das Grab legt. Mein Sechsjähriger zupft an meinem Ärmel und flüstert: „Mama, der Sammy müffelt ein bisschen.“ Trotzdem wirft er vorsichtig eine Blume in das Loch.
Vera weint die ganze Zeit. Nach der Beerdigung geht sie ins Haus. Sie ist am Boden zerstört. Mehrere Tage lang bleibt sie für sich. Nur ganz frühmorgens sehen wir sie, wenn sie im Schlafanzug zum Grab läuft und dort ein Teelicht aufstellt. Meistens flitzt Micky ihr dabei um die Beine.

Ein kleines Kreuz, ein paar Blumen. Sammy liegt jetzt im Garten. © Illustration Niehaus
Eine Woche später kommt Vera wieder in den Garten. Über Sammy sprechen will sie nicht. Aber zusammen mit ihrem Vater und den anderen Kindern bastelt sie ein Holzkreuz, das auf das Grab gestellt wird. Manchmal legt Vera Blumen dazu, immer wechselt sie die kleine Kerze aus.
Und noch einige Zeit später höre ich sie auch wieder lachen. Und sehe, wie sie mit den Jungs und der grauen Katze im Baum herumklettert.
Weinen gehört dazu.
Fünf Jahre später steht das Holzkreuz immer noch im Garten, nicht weit von dem Kletterbaum entfernt. Vera, die inzwischen vierzehn Jahre alt ist, klettert nicht mehr so oft. Micky hingegen schon. Die graue Katze schläft oft in Veras Bett. Manchmal sogar auf dem Kopfkissen. Wie Sammy früher.

Vera ist heute vierzehn. Mit Micky kann sie noch kuscheln. Aber ihren roten Kater Sammy wird sie nie vergessen. © Martina Niehaus
Als ich Vera frage, ob ich Sammys Geschichte aufschreiben darf, erlaubt sie es mir. „Natürlich kannst du das machen“, sagt sie. Denn sie weiß, dass viele Kinder Haustiere haben. Und dass es zum Traum vom Haustier dazugehört, irgendwann um dieses Tier weinen zu müssen. Um es so für immer zu behalten.
„Unser Mops steht in einer Keksdose“: Das sagt der Experte
Kinder- und Jugendtherapeut Dr. Christian Lüdke ist selbst Hundebesitzer. Er weiß, wie man Kindern helfen kann, den Tod des Haustiers zu überwinden. Rituale gehören dazu.- Wie kann man schon kleinen Kindern erklären, dass das Tier gestorben ist?
„Der Tod gehört zum Leben dazu, daher sollte man auch kleinen Kindern schon erklären, dass das Tier gestorben ist“, sagt Christian Lüdke. Von einem Tierhimmel zu sprechen, sei okay. Aber niemals sollte man sagen, das Tier schlafe nur. „Dann bekommt das Kind selbst Angst, schlafen zu gehen.“ - Sollte man erzählen, wie das Tier gestorben ist?
Das kommt darauf an. Der Grundsatz ist: „Sage die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, aber niemals die ganze Wahrheit.“ Das gilt vor allem dann, wenn das Tier unter besonders schlimmen Umständen gestorben ist. Lüdke: „Notlügen sind erlaubt, weil sie eine Zwischenform der Wahrheit sind.“ - Bei Tieren ist die Beerdigung im Garten nicht immer möglich. Welche Rituale können noch helfen?
„Rituale sind ganz wichtig, weil sie in Handlungen umgesetzte Fantasien sind“, sagt Christian Lüdke. Daher sollte man für Erinnerungsanker sorgen. „Leine und Halsband aufbewahren, Haare des Hundes abschneiden und aufheben oder in eine Kette flechten.“ Man kann ein Bild an die Wand hängen – oder das Tier verbrennen lassen. „Unser Lieblingsmops steht in einer Keksdose im Regal und ist so immer bei uns“, erzählt Lüdke. - Das Tier muss eingeschläfert werden. Darf das Kind zum Tierarzt mitkommen?
Auf keinen Fall sollte man kleine Kinder unter sechs Jahren mitnehmen. Ab dem 6. Lebensjahr ist es möglich. „Aber die Eltern müssen dem Kind vorher genau erklären, was passieren wird. Dann kann das Kind entscheiden, ob es mit will“, sagt Christian Lüdke. Möchte das Kind nicht mit, sollte es die Gelegenheit bekommen, sich zu Hause zu verabschieden. „Dabei sollten Eltern ihre Gefühle zurückhalten und ganz ruhig bleiben, damit das Kind nicht verunsichert wird.“ - Wie lange sollte man warten, bevor man sich ein neues Tier anschafft?
„Kinder trauern sehr kurz und heftig und sind dabei sehr kreativ“, erklärt Lüdke. „Sie malen, spielen und erfinden Geschichten zum toten Tier. Sie suchen darin nach Lösungsfantasien und verarbeiten den Verlust.“ Man sollte in der Familie besprechen, wann ein neues Tier angeschafft wird. „Es ist vollkommen in Ordnung, schnell ein neues Familienmitglied in die Familie zu holen.“ Die Trauer um das verstorbene Tier dürfe trotzdem weitergehen. - Was tut man, wenn das Tier nicht stirbt, sondern verschwindet?
„Man sollte zusammen mit dem Kind Suchaktionen starten“, sagt Dr. Lüdke. Die Polizei, das Tierheim, den Tierarzt anrufen. Zettel an Bäume hängen und Flugblätter in Briefkästen werfen. „Kinder kennen noch das Gefühl der Zeitewigkeit, Zeit hört niemals auf“, sagt der Experte. Daher sei ein Tag oder eine Woche im Zeitgefühl des Kindes extrem lang. Dabei sollte man auf die Signale des Kindes achten. „Wenn das Kind die Hoffnung nicht aufgibt, dann weiter warten. Ist die Sehnsucht nach einem Tier größer, kann man ruhig nach drei bis vier Wochen beratschlagen.“
Begegnungen mit interessanten Menschen und ganz nah dran sein an spannenden Geschichten: Das macht für mich Lokaljournalismus aus.
