Als Oma in ihrem Zimmer ertrank

© Foto: Reinhard Schmitz

Als Oma in ihrem Zimmer ertrank

rnMöhnekatastrophe: Flutwelle verwüstete Altstadt von Schwerte

Nach der Bombardierung der Möhnetalsperre durch die Royal Airforce vor 75 Jahren stand die Altstadt von Schwerte meterhoch unter Wasser. Jürgen Grewe erzählt von seiner Oma, dem einzigen Schwerter Todesopfer.

Schwerte

, 16.05.2018, 18:55 Uhr / Lesedauer: 5 min


Zur rettenden Treppe schaffte es die 78-Jährige nicht mehr. Es gab kein Entrinnen, als die Wassermassen das Erdgeschoss ihres Fachwerkhauses an der Mühlenstraße 22 fluteten. „Meine Oma Auguste Grewe ist am 17. Mai 1943 gestorben“, sagt Jürgen Grewe und zeigt auf ein schwarz-weißes Porträtfoto im Holzrahmen. Das einzige Erinnerungsstück, das von ihr geblieben ist. Im Mittelzimmer ihrer Wohnung ertrank die Seniorin, als das Wasser in Blitzesschnelle bis zu den Fensterbänken der ersten Etage anstieg. Ein englisches Fliegerkommando hatte in der Nacht die Stauermauer der bis zum Rand gefüllten Möhnetalsperre mit Spezialbomben zerstört. Durch eine 77 Meter breite und 22 Meter tiefe Bresche stürzte eine gewaltige Flut durch das Möhne- und dann das Ruhrtal herab. Gegen 5.15 Uhr erreichte sie die Ruhrstadt, wie Pfarrer i.R. Fritz-Günter Held in seiner Auswertung der Quellen berichtet.

Operation „Züchtigung“

„Die Bombe sollte Wasserversorgung und Stromversorgung des Ruhrgebiets treffen. Die Rüstungsindustrie des Ruhrreviers sollte ausgeschaltet werden“, schreibt Held. Aber man habe sich nicht mit der Zerstörung der Strom- und Wasserbauwerke zufrieden gegeben. Bombenkonstrukteur Barnes Wallis und die beteiligten Militärs wollten die Staumauer bei höchstem Wasserstand zerstören. Damit war auch die höchstmögliche Zahl ziviler Opfer garantiert. Die geheime Kriegsoperation trug den Namen „Chastise – Züchtigung“. Um 0.49 Uhr meldete das englische Bomberkommando den Dammbruch an seine Leitstelle. Ebenso hatte auch der Wachhabende an der Staumauer die Meldung an die Kreisleitung in Soest mit der Aufforderung weitergeleitet, das Möhnetal und das Ruhrtal zu warnen.

Bis auf die Höhe der Fensterbank im ersten Obergeschoss stand das Wasser nach der Bombardierung der Möhnetalsperre im Haus von Jürgen Grewe an der Mühlenstraße 22. Hochwassermarken tragen auch weitere Gebäude in der Altstadt.

Bis auf die Höhe der Fensterbank im ersten Obergeschoss stand das Wasser nach der Bombardierung der Möhnetalsperre im Haus von Jürgen Grewe an der Mühlenstraße 22. Hochwassermarken tragen auch weitere Gebäude in der Altstadt. © Foto: Reinhard Schmitz

9000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde stürzten in den ersten Stunden zu Tal. Das unterhalb des Staudamms gelegene Kloster und die Kirche Himmelpforten aus der Mitte des 13. Jahrhunderts wurden am 17. Mai 1943 total zerstört. Heiligenfiguren schwammen bis in die Schwerter Ruhrwiesen. An den engen Talstellen der Möhne erreichte das Wasser eine Höhe von über zehn Metern, noch im oberen Ruhrtal stand das Wasser zwischen sechs und acht Metern über dem Fluss, so Held. Eisenbahnschienen waren von der Wasserwalze zu Spiralen verformt worden. Häuser wurden halbiert. Möbel, Klaviere, tote Tiere und Menschen hingen schlammüberzogen in den Baumkronen. Baumstämme waren von der Gewalt des Wassers entrindet. Die Pumpstation Hengstey, unterhalb von Schwerte, wurde noch fast zwei Meter überflutet. Noch in Essen führten die Fluten der Ruhr zu Wasserschäden.

800 Tote in Neheim

Oberhalb Neheim standen direkt am Möhneufer die Baracken eines großen, stacheldrahtumzäunten Lagers, belegt mit Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. Die Menschen wurden durch die Stacheldrahtzäune gerissen, berichtet Held, der auch die verheerenden Folgen in den weiteren Ortschaften recherchierte. Augenzeugen sahen, wie die Baracken einen Augenblick wie Archen auf dem Wasser trieben und dann wie Streichholzschachteln von der Gewalt der Wogen zerquetscht wurden und versanken. 800 Tote aus dem Lager habe man weiter unten im Möhnetal gefunden, viele Namen waren nicht mehr festzustellen, andere Tote blieben unter meterhohen Geröllschichten begraben. Die geborgenen, zumeist russischen Toten wurden sofort in Massengräbern beigesetzt, die deutschen Toten wurden in der Pfarrkirche St. Johannes aufgebahrt. Die Nazis versuchten, die Kreuze von den Särgen zu entfernen, konnten sich aber gegen die aufgebrachte Bevölkerung nicht durchsetzen. Im Gegenzug störten sie die ökumenische Trauerfeier auf dem Friedhof durch eine Flutwarnung vor der angeblich auch zu Tal stürzenden Sorpe-Flutwelle. Die meisten bei der Beerdigung Anwesenden flohen, die Pfarrer führten die Beisetzung mit wenigen Teilnehmenden zu Ende.

Um 5.15 Uhr in Schwerte

Das ungewarnte Wickede an der Ruhr wurde 2 Uhr nachts von den Wassermassen erreicht. Die Flutwelle folgte weithin dem alten Bett der Ruhr, ihr Sog riss 20 Häuser mit sich. 118 Menschen kamen zu Tode. Etliche wurden mit den Fluten fortgerissen und frühestens in Fröndenberg an Land gespült. Die neue massive Wickeder Ruhrbrücke war verschwunden, die Ferngasleitung geborsten, Straßendämme waren fortgespült.

FOTOSTRECKE
Bildergalerie

Bilder von der Möhnekatastrophe

Historische Bilder aus der Altstadt von der Möhnekatatsrophe 1943.
16.05.2018
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In manchen Häusern stand das Wasser bis weit über das Erdgeschos hinaus, iw hier in der Brückstraße. Repro Schmitz© Repro
Die Brückstraße stand komplett unter Wasser. Die Wassermassen waren so schnell angerauscht, dass viele nur ihr nacktes Leben retten konnten.repro Schmitz.© Repro
Bei der Aufräumaktion in den Tagen danach halfen Hitlerjugend und Arbeitsdienst mit. Die Nazis waren bemüht, die Katastrophe schnell vergessen zu machen.Repro Schmitz© Repro
In der Kötterbachstraße richteten die Bürger am Morgen des 17. Mai einen Fährdienst ein, um in ihre Häuser zu gelangen.Stadtarchiv© Repro
Ein Kind steht vor der zerstörten Möhnetalsperre. Es war eine gewaltige Flutwelle, die sich in der Nacht auf den 17. Mai 1943 vom Möhnesee durch das Ruhrtal bis ins Ruhrgebiet wälzte. Mit eigens für diesen Zweck entwickelten Bomben hatte die British Royal Air Force die Staumauer des Möhnesees zerstört.© picture alliance / Julian Strate
Wasser fließt durch die zerstöre Möhnetalsperre. Es war eine gewaltige Flutwelle, die sich in der Nacht auf den 17. Mai 1943 vom Möhnesee durch das Ruhrtal bis ins Ruhrgebiet wälzte. Mit eigens für diesen Zweck entwickelten Bomben hatte die British Royal Air Force die Staumauer des Möhnesees zerstört. (zu dpa-Story: 75 Jahre Möhnekatastrophe "Die Nacht des großen Rauschens" 12.04.2018) Foto: Ruhrverband/Ruhrverband/dpa © picture alliance / Ruhrverband/R
Zeitungsausschnitte zur Möhnekatastrophe aus der Sammlung des Historikers Helmuth Euler liegen im Stadtarchiv Arnsberg. Links die Westfälische Landeszeitung - Rote Erde vom 19. Mai 1943 und rechts die britsche News Chronicle vom 18. Mai 1943. Es war eine gewaltige Flutwelle, die sich in der Nacht auf den 17. Mai 1943 vom Möhnesee durch das Ruhrtal bis ins Ruhrgebiet wälzte. Mit eigens für diesen Zweck entwickelten Bomben hatte die British Royal Air Force die Staumauer des Möhnesees zerstört.© picture alliance / Julian Strate

In Fröndenberg brach das Wasser kurz nach 3 Uhr in die Stadt ein. Das Rauschen war schon frühzeitig gehört worden, trotzdem ertranken noch 21 Menschen. Die schwere Eisenbahnbrücke wurde weggerissen, Eisenbahnwagen wurden hochgehoben und umgeworfen.

Schwerte ist über 50 km von der Staumauer entfernt. Für ihren Weg hatte die Flutwelle vier Stunden gebraucht. Schon um 2.15 Uhr wurden die Bewohner von Gut Ruhrfeld durch die Amtsverwaltung Westhofen vor einem schweren Hochwasser wegen der Bombardierung der Möhnestaumauer gewarnt und brachten ihr Großvieh zum Hof Kaufhold an der Grünstraße. Gegen 3 Uhr waren Schwerter Bewohner von der Eisenbahn gewarnt worden: Der Warndienst sprach allerdings nur von allgemeinen Hochwassergefahren. Die Zerstörung der Möhnestaumauer wurde verheimlicht, so Held. Um 5.15 Uhr erreichten die Wogen die Straßen der Ruhrstadt. Anwohner hörten ein furchtbares Brausen und Rauschen und Schreie. Menschenleichen, Tierkadaver, lebendes Vieh, Reste von Häusern und Einrichtungen trieben durch die Stadt. Wegen der allgemeinen, die wirkliche Gefahr verschweigenden Vorwarnung wurden Menschen eingeschlossen, schwammen auf ihren Möbeln oder kamen gar zu Tode.

Über 3,50 Meter hoch

Martha Stahl, geb. Remscheid wurde von einem Polizisten aufgefordert, die Nachbarn mit Kindern in der Altstadt zu warnen. Ihre lauten Weck- und Hilferufe auf der Straße wurden jedoch mit einer barschen Zurechtweisung beantwortet, schreibt Held. Kurze Zeit später kam schon ihr Bruder Wilhelm aus den Gärten mit dem Ruf: „Wasser, Wasser! Rette sich, wer kann!“ Für Martha Stahl, ihre Mutter und ihr Kind war die nahe Kirchentreppe der St.-Viktor-Kirche die Rettung. Auch die Nachbarn Cassel konnten sich mühsam über fünf Häuser von Dach zu Dach zum Kirchhof hin retten. In der Brückstraße 24 floss das Wasser ins Schlafzimmer im Obergeschoss, aus dem der vom Wasser bedrohte Sohn der Eheleute Brüggemann mit einem Kahn gerettet wurde, indem man die Fenster einschlug. In der Hellpothstraße 20 stand das Wasser 2,82 Meter hoch, in der Brückstraße 28 lag die Höhe bei 2,94 Meter.

Um die gusseiserne Tafel zu entdecken, die die Höhe der Welle an der Fassade von Jürgen Grewes Fachwerkhaus in der Mühlenstraße 22 markiert, muss man den Kopf tief in den Nacken legen. Sie ist in 3,53 Metern Höhe, direkt neben den Fensterbänken des ersten Stocks angeschraubt. „Mein Onkel hat dort die Chaiselongue auf den Küchentisch gestellt. Die ist gerade trocken geblieben“, berichtet Grewe. Er weiß so viel wie kaum ein anderer Schwerter über jene Nacht, die er als heute 70-Jähriger selbst nicht miterleben musste. Aber immer wieder wurde an seinem Tisch oder auf der Gartenbank die Möhnekatastrophe zum Gesprächsthema. Sie ist untrennbarer Teil der Familiengeschichte.

Gelähmte Tochter gerettet

Deshalb räumt Grewe auch mit einer hartnäckigen Legende auf. „Die schreiben immer, die Oma wäre schon oben gewesen und noch einmal heruntergegangen, um etwas zu holen – aber das stimmt nicht“, betont er. Zum Verhängnis wurde ihr vielmehr die zum Lüften mit einem Stocheisen (einen Keil hatte die alte Dame nicht) sperrangelweit offengestellte Haustür. Durch die flüchtete in seiner Not ein Feuerwehrmann von draußen herein, als die gut zwei Meter hohe Welle von der Brückstraße aus herangerollt kam. Er verschwendete keinen Gedanken mehr daran, die Tür zu schließen, bevor er zur Treppe stürmte. Freie Bahn für das Wasser: „Das Erdgeschoss wurde sofort geflutet.“

In letzter Minute gerettet wurde dagegen die bei der Oma lebende gelähmte Tochter Johanna. Grewes Tante Elfriede Pitzer hatte sie noch rasch nach oben getragen, als das Wasser kam. Dort war auch deren Mann Otto Pitzer. „Als sie auf dem Dachboden waren, haben sie geguckt, ob alle da waren“, berichtet Grewe. Aber eine fehlte: „Die Oma war ertrunken.“ Sie ist das einzige Todesopfer, das die Bombardierung der Talsperre in Schwerte forderte. Aus dem benachbarten Raum starben außerdem Heinz Trappmann und Hugo Juckniess mit einem weiteren Helfer aus Holzen bei dem Versuch, Vieh in den Wandhofener Ruhrwiesen zu bergen. Insgesamt wurden – so Held – nach der Bombardierung der Möhnetalsperre 1294 Tote und Vermisste gezählt.

Das 1797 gebaute Fachwerkhaus der Familie Grewe hielt den Fluten stand. Wenn auch durchnässt und voller Schlamm – so wie die ganze Nachbarschaft. In seiner Jugend, als die Möhnekatastrophe überall noch sehr frisch in den Köpfen verankert war, ließ Grewe dort eine Art Poesiealbum herumgehen. Alle sollten darin aufschreiben, wie sie die Nacht zum 17. Mai 1943 erlebt hatten: „Jeder hat ums Überleben gekämpft.“

Erneute Sprengung geplant

Und auch die Zeit danach war hart, wie der 81-jährige Günter Stadermann weiß. Seine Eltern betrieben ein großes Gasthaus auf dem Cavaplatz – ungefähr dort, wo heute die Arbeitsagentur steht. Es wurde zur Notunterkunft umfunktioniert: „Im kleinen Saal kriegten Leute Quartier, die nicht mehr in der Mühlenstraße wohnen konnten.“ Besonders ein Moment hat sich in Stadermanns Gedächtnis eingebrannt. Als Ersatz für verlorenen Hausrat brachte die Organisation Todt, eine Bautruppe der Nationalsozialisten, den Unglücklichen neues Geschirr: „Weiß mit blauen Tupfen – das hat mich beeindruckt.“ Genauso wie der Mähdrescher aus Neheim-Hüsten, der vor dem Saal der Gaststätte Im Reiche des Wassers angespült wurde und dem damals Sechsjährigen die ungeheure Wucht des Wasser greifbar machte.

Im Herbst 1943 war die Möhne-Sperrmauer wieder aufgebaut. In den letzten Kriegstagen 1945 planten die Nazis trotz der schrecklichen Überflutungen von 1943 eine erneute Sprengung der Staumauer, um die vorrückenden Amerikaner aufzuhalten; diese Pläne konnten, Gott sei Dank, nicht mehr verwirklicht werden. Der Gründer des Schwerter Ruhrtalmuseums, Josef Spiegel, mahnte: Nur wer die Erinnerung an den Krieg wach hält, weiß, was Frieden bedeutet.