Es hat etwas Meditatives: Unermüdlich werden schmale Stoffstreifen in Tarnfarben auf einem Nylonnetz aneinander geknüpft. Bahn um Bahn füllt dieser luftige Camouflage-Teppich eine 3,50 Meter breite Holzkonstruktion. Ukrainerinnen handarbeiten hier an großen Tarnnetzen für das ukrainische Militär. Ihre Werkstatt ist die ehemalige Kinderbetreuung im alten katholischen Ergster Gemeindehaus.
Julia Khmelivska hält förmlich die Fäden in der Hand: „Wir machen das hier seit November 2024, aber es gibt andere Gruppen, die arbeiten in Deutschland zum Teil schon seit drei Jahren.“ Die studierte Psychologin flüchtete bei Kriegsbeginn nach Schwerte und lässt sich gerade als Psychotherapeutin ausbilden. Jetzt arbeitet sie ehrenamtlich in der improvisierten Ergster Tarnnetz-Werkstatt wie alle anderen Frauen und eine Handvoll Männer auch.
Julia Khmelivska traf im Begegnungscafé St. Viktor gleich nach ihrer Ankunft in Schwerte andere Familien aus der Ukraine. Über Facebook vernetzte sich die ukrainische Community. Man begann sofort, mit Hilfe von Schwerterinnen und Schwertern Sachspenden, Kleidung und Lebensmittel, in die Ukraine zu schicken. Das schaffen die Frauen jetzt kaum noch, jetzt helfen alle beim Knüpfen.
Es gibt noch weitere ähnliche Werkstätten in NRW: Eine Art Zentrale ist in Meschede, dort hatte eine ukrainische Familie vor zwei Jahren die Idee. Von dort wird das kostenlose Material geholt – fast immer mit Bus und Bahn. Die Fahrtkosten zahlen die Frauen.

Kostenlose Zustellung
Das Ausgangsmaterial wird in Meschede zentral für viele „Werkstätten“ in NRW in der Türkei bestellt, Kunstgarnnetze aus der Verpackungsindustrie und Stoffbahnen in Tarnfarben. Ukrainische Familien und zunehmend Deutsche spenden dafür, jedoch ohne organisierte Spendenaktionen, da „wir zu schüchtern sind“, so Julia Khmelivska.
Anfangs stellte das ukrainische Militär das Material, nun aber nicht mehr. Die Holzkonstruktionen für die Netze sind sehr groß, mit Netzgrößen von drei mal drei bis neun mal zehn Metern. Daher ist die feste Werkstatt im Ergster Gemeindehaus wichtig.
Wenn etliche Netze fertig sind, dazu noch geknüpfte wuschelige Tarnüberzüge für Stahlhelme, werden sie in große Bündel verpackt und von Schwerte aus tatsächlich per DHL-Post oder mit Reisebussen, dann aber kostenlos, in die Ukraine bis kurz hinter die Grenze gefahren. In der Ukraine werden die Pakete bei Novaposta, dem ukrainischen DHL, aufgegeben. Die verteilen die Pakete kostenlos an Dienststellen des ukrainischen Militärs.
Aus Schwerte sind seit November 2024 über 50 große Netze fertiggestellt und verschickt worden, dazu 70 Helmaufsätze.

Vielseitige Tarnnetze
„Sie passen über Panzer, auch über kleinere Militärfahrzeuge“, sagt Julia Khmelivska. Die Netze sind aber auch im ukrainischen Zivilschutz sehr willkommen, etwa für Feuerwehrautos und Krankenwagen. Bunkereingänge oder Transformatorenhäuschen zum Beispiel werden für russische Drohnen unsichtbar. Das ukrainische Militär bestimmt die Empfänger.
Julia Khmelivska bekommt aber immer wieder Fotos aus der Ukraine nach Schwerte gemailt; die Frauen sehen also ganz genau, wo zum Beispiel ihre Netze eingesetzt werden. Manchmal schreiben ukrainische Soldaten eine E-Mail: „Danke, danke, Sie retten unser Leben!“
Die ganze Familie von Swetlana (17) lebt noch in der Ukraine im Krieg. Flink lässt sie ihre Finger fliegen, Stoffstreifen um Stoffstreifen landet sicher auf dem Netz. Eine Bahn, 10 Zentimeter breit und vielleicht 1,50 Meter lang, dauert eine Stunde. In den Pausen „zockt“ Swetlana am Handy, bleibt schweigsam. Alexander (19) ist der Sohn von Julia Khmelivska und einer von wenigen Männern, die hier mitarbeiten. Er studiert per Fernkurs an einer hinter die polnische Grenze verlegten ukrainischen Universität Informatik, spricht längst sehr gut Deutsch.
Eine andere, erwachsene Swetlana meint: Nein, das sei keine Therapie für sie. „Ich werde abgelenkt, kann Ukrainisch sprechen, mache etwas sehr Sinnvolles und Nützliches für die Ukraine, meine Heimat. Aber als Therapie sehe ich das nicht“. Es sei wie Handarbeiten. Nur wenige Männer können stricken oder häkeln, das erklärt für sie, dass kaum Männer mitknüpfen: „Die haben nicht die Geduld dafür.“
Hoffnung auf Kriegsende
Das Werkstatt-Team vermeidet Gespräche über Angehörige im Kriegsgebiet, um Tränen zu verhindern. In der Werkstatt am Kleinenberg treffen sich oft zehn bis zwölf Ukrainerinnen, maximal zwei Dutzend, da der Platz begrenzt ist.
Viktoria Rubinkowska und ihr Mann Alexander, der gerne mitknüpft, leben seit über 20 Jahren in Schwerte. Als der Krieg begann, war das Ehepaar Anlaufpunkt für viele Geflüchtete. Und ist es auch heute noch. „Ukrainische Geflüchtete leben in der ständigen Hoffnung auf das Kriegsende, und immer wieder werden sie enttäuscht“.
„Der Arbeitskreis Asyl hilft uns sehr viel“, lobt Rubinkowska. Martin Schmolke und Dieter Böhmer vom AK Asyl haben letzten Herbst die leerstehenden Kinderbetreuungsräume am Kleinenberg vermittelt.
Es gibt ganz wenige Schwerterinnen, die von der Netzwerkstatt wissen und gelegentlich mithelfen. Hilfe ist aber jederzeit sehr willkommen. Geknüpft wird mittwochs, freitags, samstags und sonntags immer von 11.40 Uhr bis 17.40 Uhr, so bestimmt es der VKU-Busfahrplan. Wer helfen will, mag vorbeikommen. „Man muss nichts mitbringen, außer seinen Händen“, sagt Rubinkowska. „Doch“ wirft Julia Khmelivska ein: „Süßigkeiten und gute Laune!“