Einen Waldspaziergang mag Anja Kaufmann nicht mehr machen. Bei jedem Knacken, jedem Geräusch schaut sie nach oben. „Was passiert ist, hat schon etwas mit mir gemacht. Die Unsicherheit ist groß“, sagt sie.
Passiert ist am 20. März, einem Mittwochnachmittag, Folgendes: Während Anja Kaufmann im Vorgarten ihres Hauses am Alten Dortmunder Weg Unkraut jätete, hörte sie plötzlich ein lautes Knacken. Eine Rotbuche vom gegenüberliegenden Waldrand neigte sich plötzlich zur Seite und kippte um – genau in ihre Richtung. In letzter Sekunde sprang die Anwohnerin zur Seite. Der Baum landete dort, wo sie vorher gehockt hatte. Beim Sturz wurden ein Dachfenster und Teile des Dachs beschädigt.

„Vorsorglich entnommen“
Die Stadt und der zuständige Revierförster vom Landesbetrieb Wald und Holz NRW hatten daraufhin mehrere Bäume am Waldrand begutachtet – anschließend gab es eine offizielle Pressemitteilung und ein Schreiben an die Anwohner.
Mehrere Bäume seien „vorsorglich entnommen worden“, andere würden zeitnah gefällt. Für das Umstürzen der Buche sei der Klimawandel verantwortlich, bei vorherigen Kontrollen habe man keine Schäden feststellen können. Vor allem der durch Starkregen aufgeweichte Waldboden könne die Ursache für das Umfallen der Buche gewesen sein. Im Ergebnis stufen Stadt und Landesbetrieb den Unfall als „höhere Gewalt“ ein.
Das sehen Anja Kaufmann und ihr Mann Holger anders. Die Stadt müsse im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht die Bäume so gründlich kontrollieren, dass so etwas nicht passieren kann. Das Ehepaar erwartet, dass die Stadt in einem vernünftigen Beforstungskonzept den Baumbestand gegebenenfalls verjüngt. Außerdem erwarten sie, dass die Stadt die Haftung anerkennt und den entstandenen Schaden von rund 4.500 Euro begleicht.
Jährliche Kontrolle
Die Stadt wolle jedoch nicht zahlen, so Kaufmann. Die Verkehrssicherungspflicht sei mit der jährlichen Kontrolle ordnungsgemäß erfüllt, habe man ihm in einem Bescheid mitgeteilt. „Man teilte uns mit, wenn Bäume durch klimatische Besonderheiten umfallen, gehöre das zum allgemeinen Lebensrisiko.“ Gegen den Bescheid habe er Widerspruch eingelegt.
Der Begriff empört Anja Kaufmann. „Wenn ich am Waldrand lebe, gehört für mich zum allgemeinen Lebensrisiko, dass ich mehr Laub im Garten habe als andere. Aber nicht, dass ich bei der Gartenarbeit von einem Baum erschlagen werde.“

Die Kontrollen und Fällungen seien bei weitem nicht genug. „Das war jetzt hektische Betriebsamkeit“, sagt Holger Kaufmann. Während Anwohner schon seit Jahren gefährliche Bäume meldeten. So wie der Baumriese genau vor dem Garten einer Nachbarin. Die Frau sagt am Telefon, dass sie seit mehr als fünf Jahren regelmäßig mit dem Förster in Kontakt gestanden habe. An dem Baum ist die Rinde aufgeplatzt. Inzwischen ist er mit einem neongelben Punkt zur zeitnahen Fällung markiert worden.
Holger Kaufmann sagt: „Mir ist schon klar, dass man jetzt nicht den ganzen Waldrand fällen kann. Ich finde es auch grundsätzlich schade um jeden Baum. Aber wenn der Boden die Bäume nicht halten kann, sodass sie schon ohne Wind umfallen – was passiert dann im Herbst, oder wenn mal ein Sturm kommt? Dann knicken die doch ab wie Streichhölzer. Und irgendwann kann es Tote geben.“
Im Gespräch mit Mitarbeitern des Baubetriebshof habe man ihm gesagt, dass ein Zurückforsten nicht möglich sei – die Bäume, die dann am Rand stünden, kämen mit der verstärkten Sonneneinwirkung nicht klar.

Um das zu klären, haben sich jetzt Nachbarn zusammengetan und einen Gutachter beauftragt. Michael Birke ist von der Landwirtschaftskammer NRW öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Baumpflege, Verkehrssicherheit von Bäumen und Baumwertermittlung.
Er sagt: „Frau Kaufmann hat wirklich sehr großes Glück gehabt.“ Das Umstürzen des Baumes sei nicht direkt vorhersehbar gewesen. Gerade bei Rotbuchen sei es selbst für Fachleute schwer zu erkennen, ob der Baum noch vital oder schon zu schwer geschädigt sei. „Rotbuchen haben durch die trockenen Jahre besonders gelitten“, sagt er. Wenn dann die Wurzeln bereits angegriffen seien – und der Boden durch Starkregen aufweiche – könne der Baum umfallen.
„Ein bisschen stärker eingreifen“
Was ist also zu tun? „Die Situation für solche Flächen ist schwierig“, räumt der Fachmann ein. Er glaube aber auch, dass mehr gemacht werden müsse, als jetzt nur vorsorglich einige Bäume zu fällen. „Man sollte schon ein bisschen stärker eingreifen.“ Bei jedem Baum müsse genau geschaut und eine Einzelfallentscheidung getroffen werden. Und Michael Birke bestätigt die Aussagen der Anwohner: „Dort stehen einige Bäume, die man bereits vor ein oder zwei Jahren hätte entnehmen sollen.“
Dass durch ein Zurückforsten des Waldrands die hinteren Baumreihen Schaden durch Sonne nehmen könnten, sieht Birke anders. „Es gib dort genug Unterstand, zum Beispiel Stechpalmen.“ Diese Büsche und Sträucher würden bei mehr Licht entsprechend wachsen und die größeren Bäume schützen.

Besonders irritiert sind Anja und Holger Kaufmann von der Passage des städtischen Schreibens, in der steht, dass „große Mengen waldfremder Grünabfälle innerhalb der Waldflächen illegal entsorgt werden“. Das schädige die Wurzelstrukturen der Bäume. „Für mich klingt das wie eine Unterstellung – als wolle man hier die Schuld auf uns Anwohner abwälzen“, sagt Holger Kaufmann. Und Anja Kaufmann fügt hinzu: „Wir bringen unseren Grünschnitt immer zum Baubetriebshof.“
Dazu sagt Michael Birke: „Grünschnitt hat im Wald tatsächlich nichts zu suchen.“ Doch um einen großen Baum zu schädigen, müsste schon ein halber Meter Grünabfälle um den Stamm herum aufgeschichtet werden. „Dann würde dem Wurzelwerk des Baums Sauerstoff entzogen.“
Während des Gesprächs mit Anja und Holger Kaufmann deutet Anja Kaufmann aus dem Fenster. Dort liegt eine weitere entwurzelte Rotbuche – sie ist in Waldrichtung gestürzt. Das sei ein paar Tage nach den Kontrollen passiert. Der Baum ist wieder komplett entwurzelt; Schäden sind von außen nicht zu erkennen. Ein weiterer Grund für Anja Kaufmann, momentan auf Spaziergänge im Wald zu verzichten.