Dass Olivia anders ist als andere neunjährige Mädchen, sieht man ihr auf den ersten Blick nicht an. Sie malt gern Bilder und spielt in ihrem Zimmer, sie fährt Rad oder tobt auf dem Spielplatz. Sie liebt Familienhund „Freddy“. Abends kuscheln sich die Katzen „Perle“ und „Emma“ auf Olivias Bett.
In der Schule hat das Mädchen mit den blonden Haaren und der Brille mehrere Freundinnen. Mathe mag Olivia nicht so gern, aber das Spielen auf dem Schulhof macht ihr Spaß. Und Weihnachten wollte sie genau so ein schönes Kleid tragen wie ihre Pflegemama Kerstin Weiland* (43).
Doch Olivia ist anders als andere neunjährige Mädchen. Manchmal verwüstet sie ihr Zimmer. Beim Radfahren beachtet sie keine Verkehrsregeln, und vom Spielplatz läuft sie weg. Vor zwei Jahren konnte man sie mit den Katzen nicht allein lassen – weil sie den Tieren manchmal wehtat. Einfach so.
Die zweite Klasse musste sie wiederholen, und das Zählen bis Zehn klappt nicht immer. Auf dem Schulhof spielt sie am liebsten, dass sie ein Pferd ist. Dann galoppiert sie wiehernd im Kreis. Ihre Freundin hat sie vor Kurzem gehauen. Und Pflegemama Kerstin Weiland hatte nach Olivias morgendlichen Wutausbrüchen schon oft Tränen in den Augen.
Diagnose: Fetales Alkoholsyndrom
Die Neunjährige kann nichts dafür. Ihre leibliche Mutter hatte während der Schwangerschaft Alkohol getrunken – unter anderem Jägermeister und Korn. Das Mädchen leidet am Fetalen Alkoholsyndrom (FAS), verbunden mit schweren neurologischen Störungen und Störungen des Sozialverhaltens. Olivia und ihre vier Geschwister leben alle in Pflegefamilien.
Pflegemutter Kerstin Weiland hatte uns Olivias Geschichte Anfang 2022 zum ersten Mal erzählt. Da war Olivia, die im Alter von fünf Jahren zu den Weilands kam, sieben Jahre alt. In der Zwischenzeit ist viel passiert – eine Herausforderung ist Olivias Störung immer noch. Kerstin Weiland sagt: „Zwischendurch stand bei uns alles auf der Kippe. Wir hätten fast aufgegeben.“
Fast.
Dass Kerstin Weiland und ihr Mann nicht aufgegeben haben, hat auch mit dem Träger „Caring ISP“ aus Schwerte zu tun. Das „Caring Institut für Soziale Praxis“ ist ein freier Jugendhilfeträger mit dem Hauptsitz in Schwerte. Die Fachberaterinnen und Fachberater begleiten und beraten Pflegefamilien – als ergänzende Hilfe zu den Jugendämtern. „Das Team von Caring hat uns unheimlich geholfen“, erzählt die 43-Jährige.
Janna Schepers (33) von Caring ISP kennt die Pflegefamilie schon lange – eine Patchworkfamilie mit zwei erwachsenen Kindern und dem inzwischen 15-jährigen Maximilian, dem Sohn von Kerstin Weiland. Und Pflegekind Olivia. Janna Schepers sagt: „Die Familie macht tagtäglich einen tollen Job. Es ist so wichtig, dass es Familien wie Familie Weiland gibt, die sich bereiterklären, Pflegekinder bei sich zu Hause aufzunehmen.“

Die Behinderungen durch das Fetale Alkoholsyndrom seien von außen nicht sichtbar. Janna Schepers erklärt: „Das ist etwas Anderes als zum Beispiel bei einem Kind im Rollstuhl. So etwas erkennt und akzeptiert jeder. Aber Wutausbrüche? Die sind verpönt.“
Janna Schepers glaubt, dass das Thema FAS gesellschaftlich noch viel zu kurz kommt. „Viele wissen es nicht, aber selbst geringe Mengen an Alkohol während der Schwangerschaft können schon große Schäden beim ungeborenen Kind verursachen. Olivia hat eine Behinderung.“ Und die damit verbundenen Ausnahmesituationen seien schwer auszuhalten.

Verzweifelt am Tisch gesessen
Das kann Kerstin Weiland nur bestätigen. „Manchmal bin ich morgens aufgewacht und hatte Angst. Ich habe überlegt: Wie ist sie heute drauf? Das Gebrülle, die Ausraster – das kannten wir ja früher in unserer Familie nicht. Ich habe schon oft verzweifelt am Tisch gesessen.“
Da hilft dann auch kein Verständnis. Denn Kerstin Weiland weiß, warum Olivia zum Beispiel alles bestimmen will. „Das war ihr Überlebensritual – weil sie als Baby und Kleinkind nicht ausreichend versorgt wurde.“ Und die Aggressionsschübe kann das Mädchen nicht kontrollieren. Sie kommen, gehen aber auch plötzlich wieder. Dann weiß Olivia, was passiert ist. Sie weint und sagt, dass sie das nicht gewollt habe. „Sie ist einfach ein ganz liebes Mädchen, ich habe sie so ins Herz geschlossen.“

Wofür mache ich das?
Trotzdem ist es schwer. „Wenn man ein Kind aufnimmt, das nicht das eigene ist. Wenn es dann tritt, schlägt oder spuckt. Oder randaliert und das Zimmer auseinandernimmt. Dann fragt man sich schon: Wofür mache ich das?“ Keine normale Mama könne so etwas nachempfinden. Zumal da ja auch noch das eigene Kind ist. „Der Maximilian kann auch nicht immer nur zurückstecken, das wäre nicht fair.“
Die Beziehung zu ihrem Mann sei ebenfalls auf die Probe gestellt worden. „Wir wären als Ehepaar fast auf der Strecke geblieben – und waren zwischendurch kurz davor, aufzugeben.“ In einer besonders schlimmen Phase habe Olivia mehrere Monate in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie verbracht. „Das war eine harte Zeit, und das tat mir auch im Herzen weh.“ Doch den Gedanken daran, Olivia abzugeben, kann Kerstin Weiland nicht ertragen. „Ich fühle mich für sie verantwortlich. Heute bin ich froh, dass ich auf mein Bauchgefühl gehört habe.“

Die Experten stehen dabei immer an der Seite der Familie. Es gibt regelmäßige Treffen und Telefonate. Das Team von Caring ISP hat auch dabei geholfen, den Alltag für die Familie leichter zu machen – und dafür gesorgt, dass Olivia einmal im Monat ein Wochenende auf einer Art Ponyhof verbringen kann.
„Das ist ein Ausgleichs-Wochenende für uns, darauf freuen wir uns immer. Und können neue Kraft tanken.“ Auch ein Au-Pair-Mädchen, das seit November 2023 bei der Familie lebt, hilft dabei, den Alltag zu meistern. „So können wir durchatmen. Oder einfach mal essen gehen.“
Inzwischen ist manches besser geworden. Olivia bekommt Medikamente, die die Konzentration fördern und die aggressiven Schübe dämpfen. Sie quält die Katzen nicht mehr. Die Tiere schlafen bei ihr am Fußende. „Ich habe ihr gesagt: Du kannst froh sein, dass sie dir noch vertrauen.“
Olivia kann zwar immer noch nicht gut rechnen, schreibt aber schöne, kreative Geschichten. Wenn Kerstin Weiland etwas im Haus dekoriert, fällt Olivia das sofort auf. „Sonst sieht das keiner, aber sie schon“, sagt sie und lacht. „Und oft kommt sie und nimmt mich in den Arm.“ Auch mit ihrem Pflegebruder Max klappt es inzwischen besser. „Sie gehen friedlich miteinander um, und sie respektiert sein Zimmer.“

Vertrauen geben
Janna Schepers sagt: „Es ist toll, diese Entwicklung zu sehen. Jede einzelne Geschichte gibt mir die Kraft und den Willen, etwas verändern zu wollen.“ Man wolle den Kindern einen guten Start ins Leben ermöglichen. „Ihre leiblichen Eltern haben ihr bestmögliches versucht, aber es hat eben nicht gereicht.“
Und manchmal, wenn es doch wieder Stress gibt – dann redet Kerstin Weiland hinterher mit ihrer Pflegetochter. „Ich nehme sie in den Arm und sage: Du kannst mich beschimpfen, aber das ändert nichts daran, dass du zu unserer Familie gehörst.“ Das Wichtigste sei es nämlich, Olivia Vertrauen zu geben. Und ihr zu zeigen: „Wir sind immer für dich da, egal was du machst.“ Dazu, erklärt die Pflegemama, brauche es viel Geduld und Verständnis. Und ganz viel Liebe.
*Familie Weiland hat eigentlich einen anderen Nachnamen. Kerstin Weiland hätte kein Problem damit gehabt, ihren richtigen Namen zu veröffentlichen. Zu Olivias Schutz soll die Familie aber anonym bleiben.
Der Jugendhilfeträger Caring ISP
- 210.000 Kinder und Jugendliche wachsen bundesweit außerhalb der eigenen Familie auf. Davon leben schätzungsweise 87.300 Kinder in Pflegefamilien
- Vor 23 Jahren hat Dietmar Bachorz, der Vater von Janna Schepers, das Unternehmen gegründet. Allein habe er mit „einer Handvoll Jugendlichen“ angefangen.
- Aktuell betreut Caring ISP mit einem 15-köpfigen Team insgesamt 111 Kinder und Jugendliche. Davon sind 45 in Pflegefamilien untergebracht.
- Caring ISP ist noch heute ein familiengeführtes Unternehmen. Nina Schulze, die Schwester von Janna Schepers, ist gemeinsam mit Mirco Kümper in der Geschäftsführung.
- Die Zusammenarbeit mit dem Schwerter Jugendamt sei sehr intensiv und gut, erklärt Schepers. Sie spricht von einem „tollen Netzwerk“.
- Im März 2024 starten neue Pflegeeltern-Schulungen. Es sind noch einige wenige Plätze frei.
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