Der tragische Tod des 15-jährigen Elias aus Olfen hat viele Menschen bewegt. Der Jugendliche hatte an einer Challenge der App TikTok teilgenommen und Deospray eingeatmet. Seine Eltern fanden Elias am 2. September tot in seinem Zimmer.
Der Kinder- und Jugendpsychotherapeut und zweifache Vater Dr. Christian Lüdke hat mit uns darüber gesprochen, warum so viele Jugendliche von sogenannten „Challenges“ bei TikTok angezogen werden - und was Eltern tun können, um ihre Kinder zu schützen.
Was macht für Jugendliche den Reiz bei TikTok-Challenges aus?
Diese Challenges gibt es schon sehr lange. Viele von ihnen sind sehr witzig. Andere hingegen sind gefährlich. Ich bin selbst bei TikTok, ich finde es grundsätzlich sehr unterhaltsam. Der Suchtfaktor ist natürlich groß, und der Reiz insbesondere für Jugendliche sehr hoch.
Soziale Medien sind ein Teil der Jugendkultur - es geht um Aufmerksamkeit und den Wunsch, wahrgenommen zu werden. Man möchte nichts verpassen. Und diese Challenges bieten eine Gelegenheit, sich von anderen abzuheben.
Ist das ähnlich wie bei einer klassischen Mutprobe?
Nein, es ist etwas ganz Anderes. Mutproben sind wirklich etwas Tolles. Die beinhalten aber kein Risiko. Eine Mutprobe ist es zum Beispiel, mal einen Regenwurm in die Hand zu nehmen, oder allein über den Friedhof zu gehen. Einen Baum hochzuklettern oder Achterbahn zu fahren. Da kann ich mir vielleicht mal einen blauen Fleck holen, mehr aber nicht.
TikTok-Challenges sind häufig dazu da, um Menschen vorzuführen. Wir kennen das aus vielen anderen Formaten aus dem Fernsehen. Big Brother oder Love Island. Da werden Menschen vorgeführt, um andere zu belustigen. Und das ist zutiefst unmenschlich. Diese Challenges haben einen ähnlichen Charakter: Da passieren Dinge, wo Menschen scheitern und sich manchmal sogar verletzen oder Schaden nehmen. Das ist ein hoher Preis – in diesem Fall ist das Ganze tödlich geendet.

Also ist Schadenfreude das Faszinierende?
Wir gucken gern, wenn andere stolpern und sich lächerlich machen, wenn sie vorgeführt werden. Wie bei „Pleiten, Pech und Pannen“. Und genau das ist der Mechanismus bei dieser Plattform. Man sieht die Dinge, die auch vollkommen außerhalb des sonst Üblichen sind, die wir sonst im Alltag erleben. Da werden alle Muster der Normalität durchbrochen. Und das ist dieser hohe Reiz. Es ist sehr schnell und kurzweilig, und oft unfassbar witzig, und das nährt die Schadenfreude, die wir in uns tragen.
Geht es auch um die Angst, etwas zu verpassen?
Wir sind soziale Wesen. Früher in der Steinzeit bedeutete es oft den Tod, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Genau das sitzt heute noch in den Genen drin. Heute geht es um diese digitale Herde. Da muss ich dabei sein. Wir kennen diese Angst, diese „Fear of Missing Out“: Wenn man zwei Stunden nicht am Handy war, wird man nervös. Man muss nachschauen, was in der Zwischenzeit für Nachrichten gekommen sind. Das ist bei Jugendlichen noch viel intensiver.
Doch wie kommen Jugendliche darauf, sich selbst zu verletzen?
Jugendliche sind gerade in der Pubertät Sklaven ihrer Hormone. Sie haben eine hohe Risikobereitschaft. Sie lösen sich gerade von ihren Eltern ab, halten sich im Prinzip für unsterblich. Das Problem kennt man auch aus anderen Bereichen: Viel zu schnelles oder alkoholisiertes Autofahren ist nur ein Beispiel dafür, dass viele junge Menschen ihre Fähigkeiten maximal überschätzen – und die Risiken unterschätzen. Eine ganz gefährliche Mischung.
Sind sich Jugendliche dieser Risiken also gar nicht bewusst?
Das Gefährliche ist, dass die Challenges, die bei TikTok auftauchen, vollkommen unreflektiert übernommen werden. Die lassen sich auch nicht überprüfen. Ist das tatsächlich real? Oder ist es Fake, was ich da sehe? Und dann wird eine Challenge einfach gemacht – ohne Risiken, Gefahren oder die eigene Motivation zu hinterfragen. Das ist wie ein Reflex. Wie bei den Clips, die man anschaut und dann immer weiterscrollt. Ohne den Kopf einzuschalten und nachzudenken.
Ist Langeweile möglicherweise auch ein Faktor?
Dieser Trend hat weniger etwas mit Langeweile oder Nervenkitzel zu tun, sondern eher mit Gruppendruck und Zugehörigkeitsgefühl. Teilweise ist es auch fehlendes Selbstbewusstsein. Da muss man dem Jugendlichen klarmachen: Es kann auch mal cool sein, etwas eben nicht mitzumachen. Sich selbst zu behaupten. Das ist eine wichtige Erfahrung. Es ist immer leichter, mitzulaufen. Aber es ist richtig stark, zu sagen: mach ich nicht. Das ist nämlich ein Zeichen von Selbstbewusstsein.

Das führt zu der Frage: Wie kann man seine Kinder vor solchen Challenges warnen?
Aufklären, aufklären, aufklären. Am besten möglichst früh. Da sind wir beim Thema Medien-Erziehung. Eltern sollten gute Vorbilder sein. Sie sollten aber auch Interesse zeigen. Und nicht immer nur sagen, dass TikTok etwas Verbotenes oder Schlechtes ist. Nein, das Handy und auch diese Plattform sind auch eine Super-Erfindung. Es ist toll, dass dort so eine schnelle Kommunikation stattfindet. Man muss sie nur eben auch richtig nutzen.
Das Tragische bei dem verstorbenen Jungen ist: Man denkt ja als Elternteil nicht in so eine Richtung. Es ist deshalb wichtig, informiert zu sein und sich und seinen Kindern frühzeitig ein Bewusstsein zu schaffen. Zu fragen: Wann und warum nutze ich das? Sonst tauche ich mit jedem Wisch und jedem Klick immer tiefer in diese Welt ein, ohne mir vorher Gedanken zu machen.
Gibt es noch andere Dinge, die man tun kann?
Eltern sollten immer auf Verhaltensänderungen achten. Und das dann auch ansprechen. Sie sollten auf die Gefahren solcher Aktionen hinweisen. Und am besten ist es, ein gewünschtes Verhalten zu verstärken. Wenn ich also mal mitbekomme: Mein Kind ist ohne Handy rausgegangen. Dann würde ich es riesig loben. Ruhig überschwänglich, weil sich das auch gut einprägt.
Und man sollte auch auf Handyzeiten achten. Viele Kinder nutzen das Handy ja auch für Projekte in der Schule. Oder um Kontakt zu Freunden zu halten. Und da sollte man klare Regeln einführen. Die Bildschirmzeit ist so ungefähr das Alter des Kindes in Stunden pro Woche. Also sollte ein Zehnjähriger maximal zehn Stunden pro Woche haben - das sind anderthalb Stunden pro Tag.
Was können Jugendliche machen, wenn sie mitbekommen, dass in ihrem Umfeld solche Challenges laufen?
Man kann die Kollegen fragen: Warum macht ihr so einen Scheiß mit? Was soll das? Vielleicht wachen die anderen dann auf. Es hat auch nichts mit Anschwärzen zu tun, wenn man sich an Erwachsene wendet. Das ist wie beim Mobbing. Hier geht es auch um Kindeswohl und Jugendwohl. Es geht um den Schutz der Gesundheit, und da muss man einschreiten. Das nennt sich Zivilcourage.
Also: Man sollte alles hinterfragen.
Genau. Wenn ich solche Challenges sehe, wenn zum Beispiel Eltern ihren Kindern beim Kuchenbacken Eier vor die Stirn klatschen, dann würde ich denen am liebsten selbst eine klatschen vor laufender Kamera und sie fragen, ob sie das witzig finden.
Man kann Kindern und Jugendlichen sagen: Immer den Kopf einschalten, und das Handy ab und zu mal abschalten. Zusätzlich kann man andere Anreize schaffen, wie Sport oder Bewegung. Es ist wirklich eine tolle Erfindung, dieses Handy, mit allen Apps, die es bietet. Trotzdem würde ich meinem Kind sagen: Das Handy verbindet Ferne, und es trennt Nähe. Darüber sollten wir öfter nachdenken.
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