Eltern kritisieren Montessori-Schule Nach ADS-Diagnose „im Stich gelassen“?

Eltern kritisieren Montessori-Schule: Nach ADS-Diagnose „im Stich gelassen“?
Lesezeit

Die Schulleitung der HagenSchule, einer Montessori-Grundschule, sieht sich aktuell Vorwürfen ausgesetzt: Zwei Familien beklagen, dass ihre Kinder dort aufgrund von ADS- und ADHS-Diagnosen nicht „erwünscht“ gewesen seien.

Der Vater von Julian (6) aus Schwerte und die Mutter von Lisa (6) aus Hagen haben uns ihre Erfahrungen geschildert*. Auch die Schulleitung nimmt Stellung. Die HagenSchule hat im September eine Zweigstelle für die weiterführende Schule am Gutshof Wellenbad in Schwerte eröffnet.

Julian (6)

Im Kindergarten bekommt Julian Wutanfälle. Anfangs machen sich seine Eltern nicht allzu große Sorgen. „Alle Kinder werden mal wütend“, erzählt Andreas (37) aus Schwerte. Er und seine Frau Stefanie überlegen, welche Schule für ihr Kind geeignet ist. Das Konzept der Montessori-Schule gefällt ihnen. Ausprobieren in einem geschützten Raum, projektorientiert und praxisnah.

Andreas und Stefanie stellen Julian an der HagenSchule vor. Sie wohnen in Geisecke, dort ist am Gutshof Wellenbad nach den Herbstferien der Montessori Campus Westfalia an den Start gegangen. Julian würde die Grundschulzeit in Hagen verbringen und später den Campus in Schwerte besuchen. Ein Jahr vor der Einschulung nimmt Julian am Probe-Vorschulunterricht teil. Alles läuft gut.

Testung auf ADHS

Im Kindergarten allerdings verschärft sich das aggressive Verhalten. Im Februar 2023 besucht die Familie eine jugendpsychiatrische Praxis. Dort werden Testungen durchgeführt – auch im Hinblick auf ADHS, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivitätsstörung. Die Schule informieren die Eltern zu dem Zeitpunkt nicht. „Es gab einfach noch keine Diagnose, und wir wollten unser Kind nicht stigmatisieren“, erklärt Andreas.

Im August 2023 wird Julian eingeschult. Die ersten Wochen verlaufen unauffällig – dann wird er wieder aggressiv. Er greift Lernbegleiter an, muss abgeholt werden. Der Vater erinnert sich: „Wir haben die Bereitschaft signalisiert, gemeinsam an einer Lösung arbeiten zu wollen. Zeitgleich haben wir einen Notfalltermin in der Praxis vereinbart.“ Noch vor Wahrnehmung dieses Termins sei Julian per E-Mail von der Ferienbetreuung ausgeschlossen worden. „Es war eine Zwei-Zeilen-Mail, kein Anruf, nichts.“

„Er wirkte müde und war weinerlich“

Kurz vor den Herbstferien wird nach Angaben der Eltern die Diagnose gestellt: ADHS. Julian bekommt Medikamente. Die Eltern informieren die Schule. Eine Antwort bekommen sie nicht. Danach ist Julian nicht mehr aggressiv, aufgrund der Nebenwirkungen aber oft müde. Die Eltern bitten die Lernbegleiter darum, den Jungen um 11 Uhr an die zweite Tablette zu erinnern. „Da hieß es, das sei nicht möglich.“

Einmal sei in diesen zwei Wochen eine Rückmeldung der Lernbegleiter per E-Mail gekommen: „[Er] kann sich nicht auf das dargebotene Thema konzentrieren und unterbricht ständig, um seine eigenen Themen zu platzieren. Zwischendurch wirkte er müde und war weinerlich.“

Am 30. Oktober werden die Eltern zu einem Gespräch geladen – und erfahren, dass ADHS „in dieser Ausprägung problematisch“ sei. Man empfehle „ein anderes Schulkonzept, das mehr Strukturierung bietet“. Die Eltern hätten vor dem Schulstart keinen Hinweis an die Schule gegeben. Unter dem Punkt „Nächste Schritte“ steht: „Eltern suchen schulische Möglichkeiten und Beratung im Umkreis Schwerte/Unna“.

Aus Sicht der Eltern ist das Protokoll unvollständig. „Es war keine Lehrkraft dort, die unseren Sohn persönlich kannte“, sagt Andreas. Die Eltern hätten vorgeschlagen, eine Integrationskraft zu beantragen. „Das wurde abgelehnt. Erst hieß es, die Stadt Hagen habe in den letzten zehn Jahren keine Integrationskraft bewilligt. Dann hieß es, externe Unterstützungskräfte seien nicht gewünscht.“

Nicht „normalisiert“

Schulvorstand Alexander Flieger habe schließlich erklärt, Julian sei „nicht normalisiert“, erzählt der Vater. [Der Begriff stammt aus der Montessori-Pädagogik: „Normalisierte“ Kinder haben sich durch eine Umstellung auf die Montessori-Pädagogik an eine freie Entfaltung ihres Potenzials gewöhnt und können dementsprechend handeln.] Andreas sagt: „Diese Aussage war verstörend. Wir hatten den Eindruck, dass es sich um eine Urteilsverkündung handelt.“

Julian wird immer stiller. Zu Hause erzählt er, dass die anderen Kinder nicht mit ihm sprächen. „Die Lernbegleiter haben gesagt, ich müsste eben höflicher sein.“ An einem Freitag holt Stefanie ihren Sohn von der Schule ab und fragt ihn, wie er sich fühlt. Seine Antwort: „Ich wünschte, ich wäre tot. Dann müsste ich gar nichts mehr fühlen.“ Stefanie bricht in Tränen aus. „Wir haben dann beschlossen, dass Julian keinen Tag länger dort hingehen soll, und haben fristlos gekündigt“, sagt Andreas. Inzwischen geht Julian auf eine Grundschule in Schwerte. „In neun Tagen haben wir dort mehr Rückmeldungen bekommen als vorher in neun Wochen.“

Sibylle Hecker und Alexander Flieger sitzen im Schulausschuss der Stadt Schwerte. Dort stellten das Konzept der Montessori-Schule vor.
Sibylle Hecker und Alexander Flieger stellten das Konzept der Montessori-Schule vor dem Schwerter Schulausschuss vor. © Martina Niehaus

Lisa (6)

Die Erfahrungen von Lisa spielen sich ein Jahr zuvor ab. Lisa ist anders als Julian. Sie ist ein stilles Kind, oft ängstlich, zieht sich schnell zurück. Sie wirkt trödelig, reibt sich die Fingerkuppen auf. Manchmal weint sie. Ihre Mutter Anja (37)* sagt: „Man muss bei ihr ganz genau hingucken, um etwas zu erkennen. Es sind Kleinigkeiten, die sie stressen.“ Daher zögert Anja auch lange, zum Arzt zu gehen. Als sie es dann doch tut, verschweigt sie es sogar vor den meisten Bekannten. „Ich wollte nicht als Helikopter-Mutti gelten.“

Auch Anja gefällt das Montessori-Konzept. Lisa nimmt am Probeunterricht teil. „Relativ früh habe ich gesagt, dass ich noch nicht weiß, wie mein Kind so zurechtkommt.“ Da habe es geheißen, das sei alles kein Problem. „Man habe ja die Lernbegleiter.“ Ein Vertrag wird abgeschlossen.

Ein Problem ergibt sich aber, als die Familie nach Besuchen bei einem Spezialisten am 13. Januar die Diagnose bekommt: ADS, verbunden mit einer „atypischen Autismus-Störung“. Die Eltern informieren die Schule – und hören drei Wochen erst einmal nichts. Dann werden sie zu einem Gespräch geladen. „Uns wurde eröffnet, dass der Vertrag aufgelöst wird. Ich habe gefragt, wie es zu der Entscheidung kam, welche Vermerke in der Probezeit gemacht wurden. Es kam nichts, keine Reaktion.“ Sie und ihr Mann hätten während des Gesprächs beide geweint.

Die schriftliche Auflösung des Schulvertrags erreicht die Eltern kurz darauf, am 9. Februar 2023 – zu dem Zeitpunkt sind in Hagen die Anmeldeverfahren für die Grundschulen bereits abgeschlossen. Dort steht: „Die neu diagnostizierte Autismus-Spektrum-Störung bei [Lisa] führt dazu, dass die Kapazität für Kinder mit besonderem Förderbedarf in den entsprechenden Lerngruppen überschritten wird.“ Anja ist verzweifelt. Nach zahllosen Telefonaten findet sie eine Grundschule, die sich bereiterklärt, ihr Kind aufzunehmen.

Alexander Flieger und Sibylle Hecker stehen auf dem Montessori Campus Westfalia (MCW) am Gutshof Wellenbad in Schwerte.
Alexander Flieger und Sibylle Hecker vom Montessori Campus Westfalia (MCW) auf dem neuen Gelände am Gutshof Wellenbad in Schwerte. © Martina Niehaus

„Wir verstehen die Betroffenheit der Familien“

Auf Anfrage unserer Redaktion erklärt Schulvorstand Alexander Flieger: „Wir verstehen die Betroffenheit der Familien gut.“ Um das Persönlichkeitsrecht der Kinder zu schützen, könne er zu den konkreten Fällen keine Stellung nehmen. Trotzdem wehrt er sich gegen die Vorwürfe. Die Schule versuche, für jedes Kind die optimale Lernumgebung zu schaffen. „Und dazu brauchen wir die Informationen der Eltern vor Schulbeginn.“

An der Schule gebe es durchaus Kinder mit Förderbedarf. Diese Eltern seien aber offen damit umgegangen. „Wir sind personell auf die Ressourcen angewiesen, die uns zur Verfügung stehen und können daher insbesondere bei Förderpädagogen nur auf die vorhandenen Kapazitäten zurückgreifen.“ Dies unterscheide die Schule vom staatlichen System – in dem auf die Ressourcen aller vorhandenen Schulen eines Schulbezirks und darüber hinaus zugegriffen werden könne.

Alexander Flieger: „Wir können nur die Kinder aufnehmen, die wir auch gut betreuen können. Insofern ist die Zahl für Kinder mit besonderem Förderbedarf begrenzt und wird bereits lange vor dem Schuljahresbeginn durch fachkundige Pädagogen auf Basis der Information durch die Eltern sowie eigener Beobachtungen geplant.“

Wenn Eltern sich bewusst entschließen würden, etwas zu verschweigen, sei das Vertrauensverhältnis gestört. Das untergrabe die pädagogischen Bemühungen und damit auch den Entwicklungserfolg des betroffenen Kindes. „Wir müssen immer wieder erfahren, dass manche Eltern unter Privatschulfreiheit verstehen, dass sie alle Freiheiten erhalten, ohne die damit einhergehenden Verpflichtungen tragen zu müssen. Dies ist vor Schulaufnahme primär die Pflicht zur uneingeschränkten Information über das Kind, vor allem wenn besonderer Unterstützungsbedarf vorliegt oder zu erwarten ist.“ In den Aufnahmeunterlagen würden explizit alle vorhandenen Diagnosen oder ähnliche Informationen angefragt – auf freiwilliger Basis.

Was die Kritik der Eltern an der Kommunikation betrifft, räumt der Schulvorstand ein: „Hier kann man sich sicher immer weiter verbessern.“

Die Eltern von Julian und Lisa hingegen sind weiterhin der Meinung, es sei gerechtfertigt, die Schule erst nach einer eindeutigen Diagnose zu informieren. Andreas sagt: „Das Konzept der Montessori-Schule ist für viele Kinder gut. Und ich glaube auch, dass viele Eltern dort hochzufrieden sind. Doch als wir Probleme hatten, haben wir uns im Stich gelassen gefühlt.“

Lisas Mutter Anja sagt: „Ich habe Lisa damals gesagt, die Schule hätte sich verzählt, und es wären schon zu viele Kinder da.“ Sie habe ihre Tochter an diesem Tag zum ersten Mal angelogen.

*Die vollständigen Namen der Eltern und Kinder sind unserer Redaktion bekannt. In den nächsten Tagen werden wir mit weiteren Eltern sprechen, deren Kinder die Schule besuchen.

Suche nach Skelettteilen am Gehrenbach-Stausee: Polizeisprecher Bernd Pentrop im Interview

Nikolaustag in Schwerte: Weihnachtsmänner verbreiten festliche Stimmung

Konzept der Montessori-Schule am Wellenbad: Wie macht man aus einem Restaurant eine Schule?