Seyma (36) übersteht Haft und Flucht aus der Türkei Mathe-Lehrerin unterrichtet an der TFG

Haft und Flucht aus der Türkei: Seyma (36) unterrichtet Mathe an der TFG
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Die zierliche junge Frau mit dem freundlichen Lächeln und den großen Augen könnte sich problemlos unter die älteren Schülerinnen und Schüler der Theodor-Fleitmann-Gesamtschule mischen - man würde erst auf den zweiten Blick merken, dass sie mit ihren 36 Jahren zum Lehrkollegium gehört. Seit August 2022 unterrichtet Seyma Eminoglu Mathematik an der Schwerter Schule. „Der Anfang war schwer“, gibt sie zu. „Aber inzwischen wird es jeden Tag besser.“

Seyma Eminoglu nimmt am ILF-Programm der Bezirksregierung Arnsberg teil. ILF - das bedeutet „Internationale Lehrkräfte fördern“. Zusammen mit ihrer Beraterin Imke Möckel von der Bezirksregierung erzählt sie uns von dem Programm, vom Unterrichten in Deutschland - und sie erzählt, warum sie vor fünf Jahren mit Mann und Kindern aus ihrer Heimat flüchten musste.

Mathestudium

In der Nähe von Izmir wächst Seyma Eminoglu auf. Sie studiert Mathematik und macht bereits im Jahr 2009 ihren Master-Abschluss. „Als ich anfing zu unterrichten, war ich gerade 22 Jahre alt. Einige meiner Schülerinnen und Schüler waren damals schon 18 und 19, vor ihnen habe ich anfangs mein Alter verheimlicht“, sagt sie und lacht. „Das war eine schöne Zeit.“

Auch Seymas Ehemann ist Lehrer; die beiden bekommen eine Tochter und einen Sohn. Sie sparen etwas Geld, um sich ein Auto und später ein Haus kaufen zu können. Ein fataler Fehler, wie sich herausstellt.

Denn als Beamte bekommen die beiden ihre Bezüge auf das Konto einer bestimmten Bank überwiesen. Das Sparkonto allerdings richten sie bei einem anderen Institut ein. Insgesamt 40.000 türkische Lira sparen sie dort - nach dem heutigen Wechselkurs ganze 1400 Euro.

Verdächtig

Diese geringe Summe reicht offenbar aus, um die beiden nach dem gescheiterten Putschversuch gegen die Erdogan-Regierung am 15. Juli 2016 zu Verdächtigen zu machen. „Offenbar dachte man, wir wollten mit dem Geld Regierungsgegner unterstützen“, erzählt Seyma Eminoglu. „Viele wurden beschuldigt, obwohl sie nichts gemacht hatten.“

Auch Seyma und ihr Mann werden in ein Polizeiauto gesteckt und zur Wache gefahren. „Einen Tag und eine Nacht habe ich mich dort aufgehalten“, sagt sie und fügt leise hinzu: „Ich kann nicht vergessen, was ich dort erlebt habe.“

Die Polizisten stecken sie zusammen mit ihrem kleinen Sohn, der noch gestillt wird, in einen dunklen Raum ohne Fenster. „Mein Kopftuch nahmen sie mir weg. Ich hätte mich damit ja aufhängen können“, sagt sie und schüttelt den Kopf.

Als Mutter von zwei kleinen Kindern kommt sie am nächsten Tag wieder frei. Ihren Mann sieht sie jedoch 18 Monate nicht wieder. „Er kam ins Gefängnis, ohne dass es irgendwelche Beweise gegen ihn gab“, sagt sie. In eine Zelle mit 30 anderen Männern. Seyma Eminoglu gibt nicht auf: Sie kümmert sich um einen Anwalt, um die Kinder, um den Haushalt. Einen Bruchteil ihres Gehalts bekommt sie noch - aber als Lehrerin arbeiten darf sie nicht mehr. „Wir wurden beide vom Schuldienst suspendiert.“ Es geht ihnen dabei wie vielen anderen - rund 150.000 Beamte wurden nach dem Putschversuch per Dekret aus dem Staatsdient entlassen.

Um zu überleben, nimmt Seyma Eminoglu verschiedene Arbeiten an. Als Babysitterin oder Nachhilfelehrerin. „Ich kann immer noch nicht fassen, wie es war in dieser Zeit.“

Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan schwenken am 16. Juli 2016 in Istanbul türkische Fahnen. In der Nacht hatte das türkische Militär versucht, die Macht zu übernehmen.
Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan schwenken am 16. Juli 2016 in Istanbul türkische Fahnen. In der Nacht hatte das türkische Militär versucht, die Macht zu übernehmen. © picture alliance / Sedat Suna/EPA/dpa

Gefährliche Flucht

Im Jahr 2018, nach eineinhalb Jahren Haft, wird ihr Mann vorerst aus der Untersuchungshaft entlassen - die Prozesse gegen die beiden dauern allerdings noch an. „Mein Mann hätte zu 15 Jahren Haft verurteilt werden können.“ Es ist der Moment, in dem sie sich entschließen, die Türkei zu verlassen.

Die Flucht ist gefährlich. „Wir waren in einer Gruppe mit 20 Leuten unterwegs.“ Von Edirne aus setzen sie mit einem Boot nach Griechenland über. „Es war ein langer Tag und eine lange Nacht.“ Anschließend müssen sie 25 Kilometer weit durch steiniges Gelände laufen - immer voller Angst, gesehen zu werden. Ihr Mann trägt den inzwischen fast dreijährigen Sohn. Seyma Eminoglu beginnt zu lächeln. „Ich war sehr schwach, aber ich bin heute noch sehr stolz auf meine Tochter. Sie war erst sieben, aber sie ist den weiten Weg gelaufen, ohne sich zu beklagen.“

Nach drei Monaten der Ungewissheit in Griechenland kommen sie schließlich in Frankfurt an. Ohne Geld, ohne Pässe, mit zwei Kindern und zwei Rucksäcken. Nach 19 Ortswechseln und verschiedenen Flüchtlingsunterkünften kommen sie nach Schwerte. Dort bekommen sie eine Mietwohnung zugewiesen.

Seyma Eminoglu sagt: „Endlich konnte ich aufatmen. Es ist nicht einfach, sich ohne Verwandte und Freunde hier einzuleben. Aber das Wichtigste ist: Ich kann frei sprechen, und niemand kann mir deswegen etwas tun.“

Auch arbeiten möchten die beiden wieder. Seymas Mann macht aktuell eine Umschulung im IT-Bereich. Die lange Haft hat seine Gesundheit angegriffen, und viele Erlebnisse aus dieser Zeit holen ihn heute ein, erzählt seine Frau.

Seyma möchte wieder als Lehrerin arbeiten. Zunächst traut sie sich nicht. „Vor der Klasse muss man den Kindern ein Vorbild sein, und ich konnte anfangs ja nicht so gut Deutsch.“ Wieder gibt sie nicht auf. Sie belegt Deutschkurse und bewirbt sich für das universitäre Programm Lehrkräfte PLUS in Köln. Dreieinhalb Stunden fährt sie jeden Tag mit Bus und Bahn an die Uni Köln. In den Seminaren lernt sie Menschen kennen, die Ähnliches durchgemacht haben wie sie.

„Und es war schön, endlich wieder unter Fachkollegen sein zu können.“ Das ILF-Anschlussprogramm absolviert sie nun bei der Bezirksregierung Arnsberg. Ihre Beraterin Imke Möckel sagt: „Was Frau Eminoglu da geleistet hat, ist wirklich unglaublich. Und wir sind froh darüber, eine so qualifizierte Lehrkraft gewonnen zu haben.“

Seyman Eminoglu und Imke Möckel von der Beratungsstelle für Lehrkräftegewinnung der Bezirksregierung Arnsberg. Imke Möckel sagt: "Sie kann Kindern ein Vorbild sein."
Seyman Eminoglu und Imke Möckel von der Beratungsstelle für Lehrkräftegewinnung der Bezirksregierung Arnsberg. Imke Möckel sagt: "Sie kann Kindern ein Vorbild sein." © Martina Niehaus

Jeden Tag wird es besser

Im August 2022 beginnt Seyma Eminoglu, an der Theodor-Fleitmann-Gesamtschule zu unterrichten. Erst begleitet von einer anderen Lehrkraft, seit Dezember dann auch eigenständig. Es ist ein anderer Unterricht als in der Türkei. Denn auch viele Kinder und Jugendliche sagen, was sie denken - und nutzen die Tatsache aus, dass die 32-Jährige ja nicht ihre „richtige“ Lehrerin ist. „Anfangs habe ich zu Hause oft geweint“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Kinder können auch gemein sein.“

Doch jeden Tag wird es besser. Sie erzählt den Kindern, dass sie aus ihrer Heimat geflüchtet ist. „Ich mache kein Geheimnis daraus. Es ist nichts, wofür ich mich schämen müsste. Und ich glaube, es ist wichtig, dass sie verstehen, warum ich hier bin.“ Inzwischen komme sie ganz gut klar im Unterricht, sagt sie. Solange die Kinder mitarbeiten, ist sie sehr geduldig. „Ich sage ihnen immer: Ich helfe euch gerne, aber lernen müsst ihr das für euch.“ Das Kollegium sei sehr hilfsbereit. Und letztens habe ihr ein Schüler sogar gesagt, dass er sie nett findet. „Das hat mich gefreut.“

Nach Ende des zweijährigen Programms hofft Seyma Eminoglu auf eine Anstellung an einer Schule. Das werde sicher kein Problem sein, glaubt ihre Beraterin. Imke Möckel sagt: „Man ist nicht nur ein Vorbild, weil man perfekt Deutsch spricht. Frau Eminoglu kann den Kindern in vielerlei Hinsicht ein Vorbild sein.“

Damit hat sie Recht. Seyma Eminoglu hat Durchhaltevermögen gezeigt. Sie hat nie aufgegeben. Und sie möchte Kindern an deutschen Schulen beibringen, dass man viel schaffen kann - auch wenn man nur mit zwei Rucksäcken hier angekommen ist.

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