„So möchte ich aussehen, wenn ich sterbe“ Marion Hebel frisiert Menschen im Hospiz

 Marion Hebel frisiert Menschen im Hospiz
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Marion Hebel steht im Zimmer von Heinrich Risse und stellt die Haarschneidemaschine ein. „Machen Sie mir nur keine Stufen“, sagt der 89-Jährige und lacht. Dann sagt er: „Ein neuer Schnitt ist allerdings fällig. Von der Chemo sind meine Haare so weich geworden.“ Marion Hebel kennt das Problem. „Ja, so ist das nach der Chemo. Da verändert sich häufig die Haarstruktur. Aber wir kriegen das hin.“ Dann beginnt sie zu frisieren, und unterhält sich locker mit ihrem Kunden.

Heinrich Risse ist im Oktober 2024 ins Schwerter Hospiz gekommen, kurz vor unserem Besuch. In einem Regal steht eine Modell-Dampflok. „Ich war früher mal Lokführer“, erzählt er. Daneben stehen Familienfotos mit seiner Frau, Kindern und Enkelkindern, und an der Wand gegenüber hängt ein großes Bild auf Leinwand, das einen Hund zeigt. „Das ist Cora, der Australian Shepherd meiner Enkelin. Der ist leider schon vor einiger Zeit verendet.“ Dann sagt der 89-Jährige nachdenklich: „Früher sagte man, dass Tiere verenden, und Menschen sterben. Heute sagt man auch bei Tieren, dass sie sterben. Weil sie immer mehr zur Familie gehören.“ Marion Hebel stimmt ihm zu.

Keine Stufen bitte! Heinrich Risse und Marion Hebel klären vor dem Haarschnitt die Details.
Keine Stufen bitte! Heinrich Risse und Marion Hebel klären vor dem Haarschnitt die Details. © Martina Niehaus

„So möchte ich aussehen“

Gespräche über den Tod und das Sterben sind Marion Hebel nicht fremd. Die 61-Jährige arbeitet im Schwerter Hospiz. Dort frisiert sie ehrenamtlich Menschen, die dem Tod sehr nahe sind. 12 Tage dauert ein Hospizaufenthalt im Schnitt – manche sind nur einen Tag da, andere mehrere Wochen. Es gibt auch diejenigen, die das Hospiz wieder verlassen können, weil sie sich ein Stück weit erholt haben. Doch das ist selten. Marion Hebel sagt: „Allein das Wort Hospiz schreckt viele Leute ab. Aber hier ist das würdevollste Sterben möglich.“

Zur Würde gehört in diesem Fall auch, dass die Männer und Frauen, die Marion Hebel frisiert, sich in diesen Momenten umsorgt und einfach wohlfühlen können. Selbst wenn jemand nicht mehr in der Lage ist, das Bett zu verlassen, versucht Marion Hebel, alle Wünsche zu erfüllen. „Manche zeigen mir ein Bild von sich und sagen: So möchte ich noch einmal aussehen.“ Bei Männern sei es häufig so, dass sie scherzhaft sagten: „Frisieren Sie mich so, dass Sie danach mit mir ausgehen würden.“ Andere sagen: „So möchte ich aussehen, wenn ich sterbe.“ In der Friseurinnen-Ausbildung hat Marion Hebel gelernt, auf die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Kundinnen und Kunden einzugehen. Im Hospiz ist das nicht anders. „Ich habe auch schon häufig mit Menschen zusammen die Sachen ausgesucht, die sie dann auf ihrer Beerdigung getragen haben.“

Frische Blümchen stehen auf dem Nachttisch. Das Schwerter Hospiz hat acht Zimmer.
Frische Blümchen stehen auf dem Nachttisch. Das Schwerter Hospiz hat acht Zimmer. © Martina Niehaus

Blickkontakt

Marion Hebel ist nicht nur gelernte Friseurin – sie ist sei 18 Jahren selbstständig als Gesellschafterin für hilfsbedürftige Menschen und Fachbegleiterin für Menschen mit Demenz. Im Schwerter Hospiz arbeitet sie seit 25 Jahren ehrenamtlich.

Groß geworden ist sie mit fünf Geschwistern in Menden. In der kleinen Sackgasse kennt jeder jeden. Schon als Mädchen besuchte sie gern die älteren Leute in der Nachbarschaft. Von ihnen lernte sie häkeln und stricken, während ihre Freundinnen im Schwimmbad waren. Am liebsten ging sie mit einer älteren Dame spazieren. „Niemand sonst konnte sie verstehen, weil man ihr in der Kriegsgefangenschaft die halbe Zunge herausgeschnitten hatte. Ich habe sie immer verstanden; sie hat mir damals zum Beispiel alle Bäume erklärt.“

Auch heute hat Marion Hebel häufig mit Menschen zu tun, die sich nicht mehr gut artikulieren können, weil sie aufgrund eines Schlaganfalls eingeschränkt oder dement sind. Oder weil sie am Ende des Lebens stehen. „Sterbende können sich häufig nicht mehr äußern – da muss man genau beobachten, und Blickkontakt halten.“

Marion Hebel hat schon viele Menschen bis zum Lebensende begleitet.
Marion Hebel frisiert Menschen im Schwerter Hospiz. Die 61-Jährige hat schon viele Menschen bis zum Lebensende begleitet. Sie sagt: "Ich bin froh, dass ich das darf." © Martina Niehaus

Und auch bei denjenigen, die noch gut sprechen können, weiß Marion Hebel: „Der Ton macht die Musik.“ Sie wird daher häufig von Angehörigen ihrer Demenzerkrankten zu Hilfe gerufen. Weil der Vater die Bankvollmacht nicht unterschreiben möchte – oder die Oma sich weigert, den Führerschein abzugeben. Dann versucht sie, zu vermitteln – und die Personen selbst entscheiden zu lassen. Meistens klappt es. „Man darf den Leuten nicht sagen: Du darfst dieses oder jenes nicht mehr. Warum sollte ich denn etwas verbieten? Man muss sich anpassen, denn sie können es nicht mehr. Das erkläre ich auch den Angehörigen.“

Im Hospiz gebe es auch lustige Momente. So wie an dem Tag, an dem Marion Hebel einer bettlägerigen Frau die Haare waschen wollte und der Wasserschlauch sich selbstständig machte. „Als ich die kleine Überschwemmung aufwischte, schaute sie aus dem Bett und sagte: Na, beim Wischen hat noch niemand vor mir niedergekniet.“

Grenzen

Obwohl sich Marion Hebel sehr häufig von Menschen verabschieden muss, sagt sie, dass ihre Tätigkeit sie erfüllt. „Man wächst eng zusammen, und ich habe keine Berührungsängste. Ich freue mich darüber, wenn Menschen diese Nähe zulassen. Dafür bin ich sehr dankbar.“

Es gibt auch Momente, die die 61-jährige Mutter von zwei erwachsenen Söhnen an ihre Grenzen bringen. „Jeder Abschied ist traurig. Aber wenn ältere Menschen sterben, dann kann man sagen: Die haben schon vieles erlebt.“ Was sie persönlich sehr betroffen macht, ist, wenn junge Menschen sterben. „Die haben noch nicht die Möglichkeit gehabt, viel zu erleben. Oder es sind Eltern, die noch kleine Kinder haben. Das macht schon etwas mit einem.“

Eine Kerze brennt im Eingangsbereich. Dann ist kurz zuvor jemand gestorben.
Eine Kerze brennt im Eingangsbereich. Dann ist kurz zuvor jemand gestorben. © Martina Niehaus

„Du darfst gehen“

Marion Hebel würde sich wünschen, dass mehr Menschen sich in diesem Bereich engagieren. Schon jetzt macht sie sich Gedanken, wer im Hospiz beim Frisieren hilft, sollte sie selbst einmal nicht mehr können. Doch sie weiß, dass das Thema Tod noch häufig tabuisiert wird. „Selbst meine eigene Mutter sagte damals: ,Kind, du bist noch so jung. Warum machst du so etwas?‘ Viele Menschen können nicht mit dem Tod umgehen.“

Eine Sache ist der Schwerterin besonders wichtig: Nicht nur die Angehörigen eines unheilbar erkrankten Menschen müssen lernen, sich zu verabschieden. Im Mittelpunkt stehen für sie die Bedürfnisse der sterbenden Person. Auch wenn viele fest daran glauben, sich irgendwann wiederzusehen: „Wer stirbt, muss alles zurücklassen. Vor allem für ihn oder sie ist es ein endgültiger Abschied.“ Deshalb müsse man auch sagen können: „Du darfst gehen.“

Beim Frisieren redet Heinrich Risse mit Marion Hebel
Beim Frisieren redet Heinrich Risse mit Marion Hebel über seine Familie, seinen alten Job und vieles mehr. Gern auch auf Plattdeutsch. © Martina Niehaus

„Nicht hängenlassen“

Heinrich Risse jedenfalls ist nach einem Blick in den Spiegel sehr zufrieden. Keine Stufen, genau die richtige Länge, und vor allem keine weichen „Flusen“ mehr. Er macht ein paar Sprüche auf Plattdeutsch – und Marion Hebel versteht tatsächlich nach kurzer Zeit, was die Sätze bedeuten.

Der 89-Jährige setzt sich zum Ausruhen kurz auf seine Bettkante. Er trägt ein kariertes Hemd und darüber einen senffarbenen Pulli. Alles farblich passend. „Sie sind richtig schick angezogen“, sagt Marion Hebel zu ihm. Heinrich Risse freut sich: „Man darf sich eben nicht hängenlassen im Leben.“

Dann zieht er sich eine Jacke über, verlässt sein Zimmer und geht frisch frisiert mit dem Rollator in Richtung Garten. „Ein paar Sonnenstrahlen einfangen.“

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist ursprünglich am 18. Oktober 2024 erschienen. Heinrich Risse ist in der Zwischenzeit verstorben. Über den Zeitungsartikel hatte er sich sehr gefreut.