„Rechten“ Sprüchen im Alltag widersprechen Experte: „Das Extreme darf nicht normal werden“

Experte zu „rechten“ Sprüchen: „Das Extreme darf nicht normal werden“
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Es passiert beim Familienessen, auf der Grillparty mit Nachbarn, auf dem Schulhof, im Büro: Ganz nebenbei erzählt jemand einen Witz mit rassistischem Unterton, es fallen sexistische Sprüche oder sogar rechtsextreme Äußerungen. Wie geht man im Alltag damit um, wenn Nachbarn, Freunde oder sogar Verwandte sich in dieser Form äußern? Schweigt man oder widerspricht man – und wenn ja, was soll man sagen?

Der Dortmunder Wissenschaftler und Extremismusforscher Prof. Dr. Dierk Borstel (51) hat kürzlich in der Schwerter Rohrmeisterei gesprochen, um einen Einblick in die Hintergründe und Strategien der AfD zu geben. Er habe gerade einmal mit 30 oder 40 Zuhörerinnen und Zuhörern gerechnet, sagt er. Am Ende kamen 400 Menschen. „Ich war komplett überrascht.“

Auch im Nachgang habe er viele E-Mails von Menschen bekommen, denen das Thema unter den Nägeln brenne, so Borstel. „Sie haben ein Ohnmachtsgefühl – sie merken, dass gerade viel passiert. Dass extreme Meinungen gar nicht mehr als extrem gelten.“ Ein Patentrezept könne auch er nicht bieten, aber einige Tipps und Ideen hat der Experte für den Alltagsumgang mit extremen Äußerungen schon.

Dierk Borstel bei einem Vortrag in der Rohrmeisterei in Schwerte
Zu Dierk Borstels Vortrag in der Rohrmeisterei in Schwerte kamen rund 400 Menschen. Er sagt: „Das Thema brennt vielen unter den Nägeln.“ © Bündnis gegen Rechts (A)

Extremes wird normal

Auf einer Wahlkampfveranstaltung des rechtsextremen AfD-Politikers Björn Höcke in Cottbus hat Dierk Borstel eine erstaunliche Beobachtung gemacht: Mitten auf dem Marktplatz in der Innenstadt seien die Menschen ihren Markteinkäufen nachgegangen oder hätten gemütlich in Cafés gesessen. Während praktisch wenige Meter weiter Björn Höcke für die millionenfache Abschiebung von Menschen mit Migrationshintergrund geworben habe – „das sind doch deren Bekannte, Freunde, Arbeitskollegen“. Sichtbaren Protest habe er dagegen kaum erlebt.

Trauen sich die Menschen nicht, etwas zu sagen, weil sie Angst haben? Sich bedroht fühlen? Ganz und gar nicht, erklärt Dierk Borstel: So ein Wahlkampfauftritt mit extremen Äußerungen sei inzwischen normal. „Und was normal ist, kann von außen nicht mehr kritisiert werden. Wenn ich Äußerungen, die jemand als normal empfindet, kritisiere, wird meine Kritik als absurd eingeschätzt.“

An der Uni erkläre er das seinen Studierenden häufig so: „Wenn ich in den Hörsaal komme und laut darüber meckere, weil da fast alle mit ihrer Wasserflasche, ihrem Tee oder Wasser sitzen, dann denken sich doch alle: Was hat der für ein Problem? Meine eigene Kritik würde in dem Moment als absurd erscheinen.“

Dass es keinen sichtbaren Protest gegen den Höcke-Auftritt gab, habe Borstel signalisiert: „Da hat sich etwas verschoben.“

Mechanismen kennen

Es gebe gewisse Mechanismen, die man kennen müsse, erklärt der Experte. Gebe es auf radikale Äußerungen oder Sprüche mit menschenfeindlichen Ideologien keinen Widerspruch, dann fühle sich die Person in ihrer Ansicht bestärkt – und sei motiviert, solche Äußerungen zu wiederholen. „Wenn niemand etwas dagegen sagt, geht man davon aus: Die andere Seite sieht es genauso.“

Daher sei es in Alltagssituationen wichtig, zu zeigen, dass man radikale Ansichten eben nicht als normal „hinnimmt“. Dabei müsse man nicht notgedrungen die Familienfeier oder das Nachbarschaftsfest „sprengen“. Eine Äußerung wie: „Diesen Witz finde ich nicht lustig, auf mich wirkt der rassistisch“ könne schon reichen.

Um Kopf und Kragen

Wichtig sei dabei, die eigene Meinung auch in der „Ich“-Form auszudrücken. Damit könne man dem Argument „Man muss doch alles sagen dürfen“, gut begegnen. Wenn es Äußerungen oder Bezeichnungen gibt, die meine Bekannten oder andere Personen möglicherweise verletzen, dann kann ich auch deutlich sagen, dass ich das persönlich nicht hören möchte. „Es ist eine gute Form der Positionierung“, sagt Dierk Borstel. „Ich sage: Ich möchte das nicht, das fühlt sich hier für mich falsch an.“

In solchen Momenten könne man dann auch schnell erkennen, ob die andere Person tatsächlich eine Art „Meinungsführerschaft“ innehabe. Das sei der Fall, sobald man das Gefühl habe: Was die- oder derjenige sagt, überzeugt auch die anderen. Oder ob da jemand steht, der sich nach dem fünften Bierchen um Kopf und Kragen redet. Daher rät Borstel, auch die Reaktionen der anderen zu beobachten.

Keine Detail-Debatte

Von Detail-Debatten mit Prozentzahlen, Statistiken oder anderen Größen rät der Experte in Alltagsgesprächen indes ab. „Dann staut sich in der Diskussion nur alles auf, und man kommt nicht mehr da heraus.“ Zumal die Gegenseite die Quellen nicht immer anerkenne.

Bei der Debatte sei es nicht wichtig, ob man gewinne oder verliere. Dass man die andere Person überzeuge, gelinge sowieso extrem selten. Wichtig sei, überhaupt etwas zu sagen – um so klare Signale an die Umstehenden zu senden. „Und damit ich auch weiterhin mit gutem Gewissen in den Spiegel schauen kann.“

In dem Zusammenhang nennt Dierk Borstel auch den Begriff der „sozialen Kosten“. Es könne passieren, dass der Nachbar böse weggehe, oder die Oma, deren vermeintlich lustiger Witz nicht angekommen ist, beleidigt reagiere. Doch das sollte niemanden davon abhalten, etwas zu sagen. „Eine gute Freundschaft kann es auch stärken, wenn man sich gestritten hat.“ Fair sei es außerdem, der Person trotzdem eine Chance zu geben, wieder aus der Sache herauszukommen.

Doch die Erkenntnis ist: Damit rechtsextreme, rassistische oder sexistische Äußerungen eben nicht „normal“ werden, bleibt am Ende nur eines: der Widerspruch.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien erstmals am 20. Januar 2025.

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