Nach Jahren der Pandemie-Pause ist es so weit: Klassenfahrten oder Sport-Trainingscamps finden wieder statt. Doch gerade, weil Kinder zuletzt auch viel Zeit zu Hause verbracht haben, kann Heimweh eine größere Rolle spielen als sonst. Der approbierte Kinder- und Jugend-Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke (62) hat uns im Interview erklärt, warum Heimweh entsteht – und warum man seinem Kind auf keinen Fall vorher zusichern sollte, es notfalls abzuholen.
Angenommen, eine mehrtägige Klassenfahrt steht an. Wie bereite ich mein Kind auf die Fahrt und das möglicherweise damit verbundene Heimweh vor?
Heimweh ist ein sehr wichtiges Thema. Es gehört zu den „inneren Saboteuren“, ist ein tiefes, ungestilltes Bedürfnis: Ich vermisse Mama und Papa, ich vermisse mein Bett, ich vermisse meinen geregelten Tagesablauf. Ich würde es aber vor so einer Fahrt gar nicht groß ansprechen und mein Kind damit „triggern“, sondern ich würde positive Dinge in den Vordergrund stellen: „Du wirst so viel unternehmen, bist endlich mal draußen, das wird ein Riesenspaß.“
Ist es gut, das Übernachten vorher zu üben – bei Freunden oder bei den Großeltern?
Na klar – aber ich würde das nicht eine Woche vor der Fahrt machen, sondern das möglichst früh schon trainieren, dass die Kinder mal beim besten Freund oder der Freundin übernachten dürfen. Ein Träumchen ist natürlich, wenn man Oma und Opa hat. Das ist dann was ganz Tolles, wenn die Kinder sehen: Da ist es anders. Da bin ich mal weg von Mama und Papa. Doch das eigentliche Training gegen Heimweh fängt schon viel früher an, im Kleinkindalter.
Wie meinen Sie das?
Es handelt sich um die allgemeine Ablöseproblematik. Manche Kinder schreien ja schon, wenn man sie in die Kita schickt, und die Mutter muss dann drei Stunden da sitzen bleiben. Das trainiert man, indem Kinder früh lernen, abends im eigenen Bett zu schlafen. Das ist nämlich die größte Vertrauensleistung überhaupt: Abends im eigenen Bett die Augen zuzumachen – ohne die Angst zu haben, dass die Mama morgen nicht mehr da ist. Genau die Panik haben Kinder unterbewusst ja: Die liest mir jetzt ‘ne Geschichte vor und erzählt mir was, und wenn ich dann einschlafe und wache auf, sind die weg. Und ich bin ganz alleine auf der Welt.
Und wer diese Panik nicht hat, schläft auch woanders gut ein?
Ganz genau. Beim Heimweh ist die unterbewusste Panik ähnlich: Wenn ich weggehe oder woanders schlafe, ist mein Zuhause nicht mehr da. Wenn ein Kind aber lernt, schon früh im eigenen Bett zu schlafen, stärkt es das Vertrauen und macht Kinder so stark, dass sie loslassen können. Und dann haben die auch kein Problem damit, mal woanders zu schlafen. Denn sie wissen, dass Mama und Papa zu verlässlichen Vertrauten werden. So funktioniert es auch bei der Klassenfahrt: „Wir sind da, wenn du wiederkommst.“
Trotzdem kann auf einer Klassenfahrt ja durchaus mal Heimweh aufkommen...
Und dafür kann man seinem Kind Dinge mitgeben, die an zu Hause erinnern. Das sind Erinnerungsanker: das Lieblingskissen, das Stofftier, ein Glücksbringer oder eine Münze, Papas T-Shirt oder Mamas Haarspange. Es sollten kleine Dinge sein, die man gut transportieren kann. Diese Dinge haben eine magische Wirkung und Superkräfte. Es sollte nichts sein, was extra angefertigt wird, sondern ein Erinnerungsanker, den man mitgibt. Als emotionale Brücke nach Hause.

Sollte ich meinem Kind bereits vorher versprechen, es notfalls auch abzuholen? Damit vermittelt man doch Sicherheit.
Auf gar keinen Fall. Damit bereite ich das Kind ja schon darauf vor, Angst zu haben. Zu sagen: „Wenn es ganz schlimm wird, holt Mama dich ab.“ Bloß nicht! Lieber sagen: „Du fährst da hin, und wenn du wieder zurückkommst, feiern wir das und gehen abends eine schöne Pizza essen, oder Mama kocht dein Lieblingsessen.“ Wenn ein Kind krank ist oder komplett aus der Reihe tanzt, oder halt völlig durchschreit, weil es Heimweh hat: Dann informieren einen die Lehrer ja. Der Notausgang ist sowieso immer da, den muss man erst gar nicht thematisieren.
Auch Eltern vermissen ihr Kind. Lässt man das ebenfalls unerwähnt?
Eltern projizieren viel auf ihre Kinder und geben auch ihre Ängste weiter. Wenn sie das Thema emotionalisieren, dann lernt das Kind, Heimweh zu haben, ohne dass es jemals selbst das Gefühl erlebt hat. Wenn ich meinem Kind sage, wie sehr ich es vermissen werde, kann ich damit auch Schuldgefühle auslösen: „Wenn ich jetzt wegfahre, dann geht es Mama und Papa schlecht.“ Von daher sollte man sich das unbedingt verkneifen. Besser wäre zu sagen: „Ich hab dich so lieb und bin total stolz auf dich.“
- Dr. Christian Lüdke (62) ist approbierter Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut und Klinischer Hypnotherapeut. Lüdke unterstützt Kinder, Jugendliche, Familien und Paare. TV-Zuschauerinnen und Zuschauer schätzen seit vielen Jahren seine kompetenten Tipps rund um das Thema Familie und Kinder.
- Er ist selbst zweifacher Vater und gibt in unserer Kolumne regelmäßig Tipps zu vielen Fragen rund um Familie und Kinder.
- Lüdke ist erfolgreicher Autor u.a. der Kinderbücher zu Stella & Tom.
- Kontakt zum Familien-Experten: Sie sind Eltern- oder Großelternteil oder Erziehungsberechtigter und haben eine Frage an unseren Familien-Experten Dr. Christian Lüdke? Dann schreiben Sie uns Ihr Anliegen unter Angabe Ihres Namens und Ihrer Heimatstadt an familien@rnw.press