Diese Sehnsucht. Treffender als Udo Jürgens hat sie wohl bisher niemand beschrieben. Die Sehnsucht des Familienvaters, der nur mal eben Zigaretten holen will – und für wenige Minuten davon träumt, seinem Leben zu entfliehen. Nach New York, Hawaii oder San Francisco. Und der am Ende des Lieds die Zigaretten einsteckt und sich mit seiner Frau vor den Fernseher hockt. Sie fragt ihn: „War was?“, und er sagt: „Nein, was soll schon sein?“
Allein die Melodie des Liedes „Ich war noch niemals in New York“ löst beim Zuhörer absolutes Fernweh aus. Doch woher kommt sie, diese Sehnsucht nach einem kompletten Neuanfang? Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke (62) hat uns erklärt, was in solchen Momenten im Gehirn passiert, warum Veränderungen wichtig sind – und wie man trotzdem bei sich bleiben kann.
Herr Dr. Lüdke, sind es vor allem unglückliche Menschen, die sich einen Neuanfang im Leben wünschen?
Nein, ganz und gar nicht. Es ist sogar normal: Wenn wir glücklich sein wollen, müssen wir uns permanent verändern. Leben ist immer Veränderung, und von der Kindheit bis ins hohe Alter durchlaufen wir stetig Veränderungen und Entwicklungskrisen.
Welche Krisen sind das?
Am Anfang steht die Geburtskrise, es folgt die Loslösung von der Mutter. Dann kommen die nächsten Schritte: Kindergarten, Schule, die Gestaltung des eigenen Lebens. Eltern durchlaufen wiederum eine Krise, wenn ihre Kinder das Elternhaus verlassen. Dann müssen sie oft ihre Beziehung neu definieren. Und dann gibt es noch die sogenannte Plateau-Krise, von der wir heute sprechen.
Meinen Sie damit die klassische Midlife-Crisis?
Diese Krise stellt sich dann ein, wenn wir im Leben auf einer Art Hochebene angekommen sind. Wir fragen uns: Was habe ich erreicht? Was habe ich noch für Wünsche, Hoffnungen, Ziele? Wie viel Zeit bleibt mir dafür noch?
Und dann kann ich entweder zufrieden sein - oder ich werde in tiefe Verzweiflung gestürzt. Manchmal kommen Umstände hinzu, wie eine Trennung oder ein Verlust. Aber das Gefühl kann auch in mir selbst entstehen.
Gibt es da ein bestimmtes Alter?
Bei Männern passiert es häufig so um die 35, bei Frauen meist etwas später. Bis zu diesem Lebensjahr glaubt Mann, er sei unsterblich. Das erkennt man an dieser Risikobereitschaft und Selbstüberschätzung, die viele junge Männer haben, gerade in der Hochpubertät. Werden sie älter, ängstigen sie sich. Sie fallen dann auf frühkindliche Entwicklungsstufen zurück, in der Gehirnforschung nennt man das den Peter-Pan-Komplex. Dann kommen die neue Frisur, das Piercing, das Tattoo, der Porsche. Oder der Mann trennt sich und sucht sich eine jüngere Frau – in der Hoffnung, den Alterungsprozess aufhalten zu können.
Eine Hoffnung, die sich nicht so oft erfüllt, wie Mann sich wünscht...
Männer haben im Grunde größere Probleme damit als Frauen, in Würde älter zu werden. Sie verändern Dinge radikal, anstatt bei sich zu bleiben und gemeinsam mit ihrer Partnerin dieses Abenteuer weiter anzugehen.
Doch auch Frauen haben Frust – oder träumen vom Neuanfang.
Was bei den Männern der Peter-Pan-Komplex ist – die Weigerung, erwachsen zu werden – beschreibt die Psychologie bei Frauen als Cinderella-Syndrom. Sie leben häufig in stiller Verzweiflung und träumen davon, dass sich etwas ändert. Den Schritt selbst wagen sie meist nicht - aber sie warten darauf, dass der Prinz anklopft und fragt: „Passt der Schuh?“

Weil man sich ja auch an seine Lebensweise gewöhnt hat.
Genau. Aber: Gewohnheit macht gewöhnlich. Irgendwann haben wir alles erreicht. Wir haben unseren Beruf, unsere Partnerschaft. Wir haben unsere Rolle im Leben gefunden, und dann kommen wir in unseren Trott. Dieses gemütliche Elend, in dem viele Menschen landen.
Einen kompletten Neuanfang wagen dann nur die wenigsten Menschen.
Unsere Sehnsucht ist es natürlich, ein langes, glückliches und erfülltes Leben zu haben. Damit verbunden ist der tiefe Wunsch, unsterblich zu sein. Und genau deshalb haben wir auch Angst vor Veränderungen: Weil Veränderungen uns tiefenpsychologisch letztlich an den Tod erinnern. Davor haben viele Menschen eine riesengroße Angst.
Wie kann man dieser Angst begegnen?
Das Rezept, um lange glücklich zu sein, besteht darin, dass wir uns verändern sollten, denn jede Lebensphase hat ihre eigenen Reize und Themen. Und wenn wir uns diesen Herausforderungen stellen und mutig bleiben, dann haben wir erstmal das Gefühl, dass die Zeit langsamer vergeht. Das Leben ist dann eher ganz lang und bunt, und nicht so, dass man da durchhetzt. Wir sollten nicht auf der Überholspur mit gesetztem Blinker da durchrauschen. Sondern wir sollten immer wieder innehalten, zur Ruhe kommen. Außerdem sollten wir neugierig und mutig bleiben. Dazu gehört es auch, Risiken einzugehen und mal neue Dinge auszuprobieren.

Risiken halten aber viele Menschen von einem Neuanfang ab.
Wenn ich Träume habe, wie zum Beispiel, eine Pommesbude zu eröffnen: warum nicht? Wichtig ist, seine Träume auch anzugehen. Sonst bereut man hinterher, dass man es nicht gemacht hat. Ich glaube, man sollte den Mut haben, anzufangen. Wir müssen damit gar nicht fertig werden. Nichts wird im Leben jemals fertig. Aber wichtig ist es, loszugehen. Einfach mal zu starten, auch wenn es in die Hose geht. Es ist gar nicht schlimm, zu scheitern.
Wie kann ich kleine Neuanfänge im Alltag erleben?
Das beginnt im kleinsten Kreis. Zum Beispiel lerne ich kochen, oder ich fahre mal mit dem Rad zur Arbeit. Ich kann kreativ werden, eine Sprache lernen oder einen Tango-Kurs machen. Vielleicht teste ich eine neue Sportart. Ich muss auch nicht immer im selben Ort Urlaub machen, immer die gleiche Pizza bestellen. Und immer, wenn wir uns neue Aufgaben stellen und alte Muster durchbrechen, belohnt das Gehirn das mit der Ausschüttung des Glückshormons Dopamin. Da kann man in regelrechte Rauschzustände geraten.
Und wenn sich hinterher herausstellt, dass man doch zwei linke Füße zum Tanzen hat – und der neue Urlaubsort blöd ist?
Dann hat man es immerhin ausprobiert. Allein die Vorfreude auf neue Orte, Ereignisse oder Tätigkeiten kann uns glücklich machen.

Und damit kommt man gegen diese Sehnsucht an?
Sehnsüchte sind tiefe, ungestillte Bedürfnisse. Um sie zu stillen, können wir selbst viel tun. Wir können uns erst einmal fragen: Was ist das denn für ein Bedürfnis bei mir, das ich stillen möchte? Dann überlege ich: Welche Aktionen können mich da heranführen? Gut ist es, immer mehrere Ziele vor Augen zu haben.
Im Grunde genommen fangen wir schon kurz nach der Geburt damit an zu sterben. Und ich sage immer: Bis es so weit ist, sollten wir unser Leben so richtig genießen.
Dieser Artikel ist zuerst am 1.1.2023 erschienen.
Dr. Christian Lüdke (62) ist approbierter Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut und Klinischer Hypnotherapeut. Lüdke unterstützt Kinder, Jugendliche, Familien und Paare. TV-Zuschauerinnen und -Zuschauer schätzen seit vielen Jahren seine kompetenten Tipps rund um das Thema Familie und Kinder.
Er ist selbst zweifacher Vater und gibt uns regelmäßig Tipps zu vielen Fragen rund um Familie und Kinder.
Lüdke ist erfolgreicher Autor, unter anderem der Kinderbücher zu Stella & Tom.
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