Zur Weihnachtszeit kommt man sich schnell vor wie die Familie Griswold aus dem Filmklassiker „Eine schöne Bescherung“: Am Ende des Heiligabends droht der kollektive Nervenzusammenbruch. Wie man Stress und Hektik in dieser besonderen Zeit begegnen sollte, hat uns der zweifache Vater und Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke (62) erklärt.
Herr Dr. Lüdke, die Vorweihnachtszeit ist für uns eine schöne, aber auch hektische Zeit. Gleichzeitig hat man das Gefühl, die Vorbereitung ist noch viel schöner als Weihnachten selbst. Woran liegt das?
Es gibt Studien aus der Gehirnforschung, die zeigen, dass die Natur die Annäherung an ein schönes Ereignis mit dem Glückshormon Dopamin belohnt. Es macht uns glücklich, wenn wir uns in der Vorweihnachtszeit immer wieder kleine Dinge suchen, auf die wir uns vorbereiten können: Schmücken, dekorieren, backen, auf dem Weihnachtsmarkt mit Freunden einen Glühwein trinken. Dabei haben wir Weihnachten im Blick. Allein die Annäherung an Weihnachten führt dazu, dass unser Gehirn das immer mit einem Spritzer Glück belohnt.
Aber spätestens, wenn die „bucklige Verwandtschaft“ auf der Matte steht, ist es vorbei mit der Ruhe. Dann möchte man allen gerecht werden.
Man muss aber nicht allen gerecht werden. Ich kann auswählen, ein bisschen reduzieren, andere Formen wählen. Weniger ist oft mehr. Nehmen wir die Verwandtschaft: Wer ist mir am wichtigsten, wen habe ich das ganze Jahr über nicht gesehen? Diese Leute sollten an erster Stelle stehen. Alles andere kann man mit ein wenig Planung gut entzerren. Man sagt also: „Liebe bucklige Verwandtschaft, wir machen das in diesem Jahr ein bisschen anders.“ Dabei sollte man seine Position auch durchsetzen. Frühzeitige Absprachen sind die halbe Miete.
Führt das nicht zwangsläufig zu noch mehr Stress?
Nur wenn es mir gut geht, kann ich auch dafür sorgen, dass sich andere bei mir wohlfühlen. Was hat also Priorität? Dazu fällt mir ein: Heute sagen alle immer „Prioritäten“. Doch den Plural für dieses Wort gibt es erst seit etwa 120 Jahren. Man sollte also wirklich überlegen: Was ist das Wichtigste für mich?
Manchen Menschen ist es wichtig, dass an Weihnachten alles perfekt abläuft.
Perfektion schafft Aggression, das wissen wir aus der Forschung. Daher sage ich: Mittelmäßigkeit reicht vollkommen aus. Das beginnt bei der Vorbereitung, beim Schmücken bis hin zum Essen. Es muss nicht das Super-Top-Premium-Platin-Titan-Deluxe-High-End-Weihnachtsfest sein. Denn es geht ja um die Menschen, mit denen wir zusammen sind.
Okay, es muss nicht alles perfekt laufen. Aber was mache ich, wenn irgendetwas richtig schiefläuft?
Humor ist extrem gut, denn immer, wenn wir lachen und Spaß haben, belohnt unser Körper das mit Glückshormonen. Aus der Gehirnforschung kann man sagen, es gibt so einen Kreislauf. Der sagt: „Haltung führt zu Zuständen, und Zustände führen zu einer Haltung.“
Das funktioniert allein über meine Körperhaltung. Wenn ich mich also gerade hinstelle und mich groß mache, führt das dazu, dass meine innere Haltung diesen Zustand annimmt. Und wenn ich gut drauf bin, kann ich das durch meine Haltung sichtbar machen. Das eine bedingt das andere. Humor führt dazu, dass wir immer wieder auch eine Form von Entspannung haben.
Das beruhigt mich – bei uns läuft immer eine Menge schief. Doch bei uns beginnen Stress und Hektik manchmal schon beim Geschenkekauf.
Das mit den Geschenken ist inzwischen schon fast eine Sucht. Man darf sich nicht in diesen Konsumwahn reinziehen lassen.
Es geht darum, etwas Persönliches zu schenken. Das muss nicht teuer oder exklusiv sein. Die Überraschung zählt. Wenn ich den oder die Beschenkte das Jahr über beobachtet habe, dann kann ich ganz beiläufige Dinge oder Wünsche aufschnappen. Ein entsprechendes Geschenk drückt dann Wertschätzung aus: Ich sehe, wie es dir geht. Ich sehe deine Bedürfnisse. Das gilt auch für Kinder.

Aktuell haben viele Menschen weniger Geld zum Ausgeben – auch für Geschenke. Wie kann man das lösen?
Wir erleben das ja gerade: Die fetten Jahre sind vorbei. Auf einmal ist alles unsicher, die Welt gerät aus den Fugen. Die Energie-Krise, gestiegene Lebensmittelkosten. Es ist möglich, dass man sich auch hier begrenzt. Und sagt: Leute, jeder bekommt dieses Jahr nur ein Geschenk. Auch aus Kostengründen. Das ist eine Erfahrung, die Kinder auch lernen müssen.
Man kann Zeit schenken, einen gemeinsamen Ausflug planen. Ich persönlich finde Fotobücher toll, selbst gebastelte Alben. Meine Töchter sind über 20 und viel auf Social Media unterwegs. Aber dann kramen die Damen plötzlich wieder die Fotobücher raus. Blättern stundenlang, versinken darin. Und ich finde, das ist etwas ganz Tolles. Da können Tausende digitale Bilder nicht mithalten.

Hat Weihnachtsstress möglicherweise auch etwas mit überzogenen Erwartungen zu tun?
Viele Menschen fragen sich: Was erwarte ich vom Leben? Einen tollen Partner, einen tollen Job, ein tolles Gehalt. Sie warten auf Dinge, die von außen auf sie zukommen. Viel wichtiger ist die Frage: Was macht mein Leben sinnvoll? Dann bestimme ich selbst, was mein Leben sinnvoll macht.
Mit einer solchen Haltung kann ich auch auf Weihnachten zugehen. Anstatt zu fragen, was ich von Weihnachten erwarte, kann ich fragen: Was macht mein Weihnachtsfest sinnvoll? Wenn ich mit meiner Familie zusammen bin. Wenn ich meine Freunde treffe. Und dann steht im Mittelpunkt die Beziehung zu den Menschen, die wir lieben.
Das klingt einleuchtend. Doch oft kommt der Stress auch von außen auf uns zu. Die Freunde wollen zum Weihnachtsmarkt, man „muss“ sich noch um Baum und Deko kümmern, das Essen planen, arbeiten gehen. Wie entzerre ich den Terminkalender?
Man versucht oft, alles in den Dezember hineinzupressen, was man im Jahr nicht geschafft hat. Da ist Stress vorprogrammiert. Man sollte die Zeit doch einfach genießen. Auch hier hilft es, an der eigenen Einstellung zu arbeiten.
Als Hypnotherapeut sage ich oft Sätze wie: „Ja, so ist das eben. Ich schaffe nicht mehr. Ich muss nicht jeden Termin wahrnehmen.“
Das Gleiche gilt in dieser Zeit: „Ich muss nicht jeden Tag auf den Weihnachtsmarkt. Ich muss immer nur so viel machen, wie es mir guttut. So ist das eben.“ Dann kann ich auch meinen Terminkalender entzerren. Und gucken: Ist es dringend oder ist es wichtig? Dringende Dinge nerven oft, aber da ist auch oft nichts dahinter. Deshalb sollte man sich darauf konzentrieren, das Wichtige vor dem Dringenden zu tun.

Besondere Rituale sind auch etwas Schönes. Warum bedeuten sie uns so viel?
Rituale sind in Handlungen umgesetzte Fantasien. Rituale, das hat was mit magischem Denken zu tun. Da geht es um Gesundheit, Schutz, um Geborgenheit und Sicherheit, um Getragensein.
Und diese Rituale sind eine Affektbrücke in die Kindheit. Plätzchenbacken wie damals bei Oma, oder Strohsterne basteln. Auch wenn es albern klingt: Dahinter verbergen sich ganz viele emotionale Erinnerungen. Da werden Endorphine und Dopamine ausgeschüttet. Davon kann der Körper nicht genug bekommen.
Also sagen Sie: Man kann das Weihnachtsfest durchaus stressfrei genießen.
Ja. Indem ich mir selbst Wertschätzung entgegenbringe. Mir Zeit nehme und Pausen mache. Einfach mal innehalten. Ins Café gehen, ein Stück Kuchen genießen und den Leuten zuschauen, wie sie ohne Lächeln, in halb gebückter Haltung und mit Tüten beladen durch die Straßen rennen.
Das kann ein tolles Gefühl sein: Sich davon nicht anstecken zu lassen. Am Ende bestimme ich, wie schön dieses Weihnachtsfest wird.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 19. Dezember 2022.
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