Auch Markthändler unterstützen die Lebensmittelretter: Hier schleppt Carsten Kisten mit Obst zu seinem Auto. © Bernd Paulitschke
Foodsharing
Lebensmittel vor dem Müll retten und auch noch Geld sparen
Bettina packt aus den Obstkisten Pflaumen und Bananen in die Tasche und geht - ohne zu bezahlen. In einer Garage in Schwerte kann das jeder so machen und Lebensmittel vor dem Müll retten.
Ein bisschen skurril ist der Anblick schon: Eine vollgestellte, etwas unordentliche Garage neben einem Einfamilienhaus in einer ganz normalen Wohnsiedlung. Und ständig kommen Leute mit Beuteln, Körben und sogar Einkaufstrolleys an. Optisch muss man Abstriche machen, aber die Abläufe erinnern an einen sehr kleinen Supermarkt. Sie bedienen sich an den Obst- und Gemüsekisten, gucken in Kühlboxen und packen Gläser mit Marmelade ein. Nur der Griff zum Portemonnaie, der entfällt hier.
Möglich machen das Anke, Alex, Carsten, Tobi, Anja, Steffi und Kurt - die sieben Schwerter sind das Orga-Team, das hinter der Aktion „Die Lebensmittel-Retter“ steht. Sie holen täglich Lebensmittel aus Supermärkten ab, mittwochs und samstags auch vom Wochenmarkt.
Anke und Carsten sortieren die Lebensmittel, die sie mittags vom Markt und einem Supermarkt abgeholt haben, in der Garage an der Sonnenstraße ein. © Bernd Paulitschke
Gruppe sammelt Lebensmittel, die sonst im Müll landen
„Das Prinzip funktioniert so, dass wir Lebensmittel einsammeln, die sonst im Müll landen würden, die also teilweise Druckstellen haben oder vom Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen sind und hier in unserem Lager zum Abholen zur Verfügung stellen“, erklärt Carsten (42) die Idee, die hinter dem Foodsharing (übersetzt: Lebensmittel teilen) steht.
Kostenlos kann sich hier jeder bedienen, der Lebensmittel vor dem Müll retten will. Montags bis samstags zwischen 15 und 17 Uhr können die Sachen in der Garage an der Sonnenstraße 27a abgeholt werden.
Aus den Kisten kann sich jeder herausnehmen, was er mitnehmen möchte. © Bernd Paulitschke
Der Stoffbeutel ist knapp zur Hälfte mit Pflaumen, Äpfeln und Bananen gefüllt, als Bettina zufrieden mit dem Kopf nickt - das soll für heute reichen. Die 55-jährige Schwerterin kommt regelmäßig am Samstagnachmittag an der Garage vorbei. Unter der Woche hat sie wenig Zeit und samstags ab 14.30 Uhr ist die Auswahl besonders groß, dann gibt es Obst, Gemüse, Milch- und Käseprodukte vom Wochenmarkt. „Ich unterstütze gerne Projekte, bei denen es um Lebensmittelrettung geht. Da geht es einfach um ökologisches Bewusstsein“, sagt sie.
Neben ihr packt ein älterer Herr, der in der Nachbarschaft wohnt, Donuts mit Schokoüberzug in eine Tüte. „Für nachher zum Kaffee.“ In eine weitere Tüte wandern Körnerbrötchen. Die Auswahl an Backwaren ist riesig. Drei blaue Ikea-Taschen voll. Der Mann gehört zum festen Stamm, kommt regelmäßig vorbei - wie viele Ältere. „Die haben noch ein anderes Bewusstsein Lebensmitteln gegenüber. Die Mengen, die unsere Generation wegschmeißt, das kommt für sie nicht in Frage“, beschreibt Carsten seinen Eindruck.
Lebensmittel retten ist wichtigster Aspekt
Im Vordergrund steht das Retten von Lebensmitteln - und nicht das Geld sparen: „Unser Wunsch war einfach, den Leuten vor Augen zu führen, wie viel weggeschmissen wird und das man dagegen etwas tun kann“, sagt Carsten, der das Projekt gemeinsam mit Tobi vor gut drei Jahren ins Leben rief.
<div class="infogram-embed" data-id="dfc98356-c738-4b1f-8f22-d50ecba9f9dd" data-type="interactive" data-title="Lebensmittelverbrauch und-verschwendung"></div> <script>// !function(e,t,n,s){var i="InfogramEmbeds",o=e.getElementsByTagName(t)[0],d=/^http:/.test(e.location)?"http:":"https:";if(/^\/{2}/.test(s)&&(s=d+s),window[i]&&window[i].initialized)window[i].process&&window[i].process();else if(!e.getElementById(n)){var a=e.createElement(t);a.async=1,a.id=n,a.src=s,o.parentNode.insertBefore(a,o)}}(document,"script","infogram-async","https://e.infogram.com/js/dist/embed-loader-min.js"); // </script> <div style="padding: 8px 0; font-family: Arial!important; font-size: 13px!important; line-height: 15px!important; text-align: center; border-top: 1px solid #dadada; margin: 0 30px;"><a href="https://infogram.com/dfc98356-c738-4b1f-8f22-d50ecba9f9dd" style="color: #989898!important; text-decoration: none!important;" target="_blank" rel="noopener noreferrer">Lebensmittelverbrauch und-verschwendung</a><br /><a href="https://infogram.com" style="color: #989898!important; text-decoration: none!important;" target="_blank" rel="nofollow noopener noreferrer">Infogram</a></div>„Ich glaube schon, dass einige kommen, weil sie Geld sparen können, der Hauptgrund ist es aber nicht“, sagt der Schwerter Lebensmittelretter. Daher sei man auch keine Konkurrenz zur Tafel: „Wir nehmen nur Sachen, die die Tafel nicht nehmen kann, weil die ja ganz eindeutige Hygienevorschriften haben, da sind wir freier. Und bei uns muss man nicht bedürftig sein.“
„Mit blutet das Herz, wenn so viel weggeschmissen wird“
Bei einigen der Kunden greifen beide Aspekte ineinander: Regina (64) und Wolfgang (68) kommen samstags extra aus Holzwickede nach Schwerte, um Lebensmittel abzuholen. „Mir blutet einfach das Herz, wenn so viel weggeschmissen wird“, nennt sie einen Grund, warum sie zur Lebensmittelretterin geworden ist. „Und weil wir so eine super Rente haben“, sagt Wolfgang - und seine Stimme tropft vor Ironie.
Regina (64) und Wolfgang (68) kommen extra aus Holzwickede, um sich mit Lebensmitteln einzudecken, die sonst weggeworfen werden müssten. © Bernd Paulitschke
Es geht ihm auch ums Geld sparen und so packt er Dutzende Äpfel in einen großen Beutel. „Für Apfelmus. Das gekaufte schmeckt mir nicht“, sagt seine Lebensgefährtin. „Dann nehmen sie doch noch mehr mit, ist ja noch so viel da“, will Anke, eine der Organisatorinnen, das Paar ermutigen, ruhig noch mehr einzupacken. Regina schüttelt mit dem Kopf: „Man muss es ja auch essen können.“
Nicht alles wird frisch gegessen, vieles auch weiterverarbeitet
Lebensmittel hier mitnehmen, aber sie zuhause wegschmeißen müssen - das will hier keiner. Und darauf achtet das Orga-Team auch. „Wenn wir sehen, dass einer sehr große Menge einpackt, dann fragen wir schon mal nach, was damit passieren soll“, sagt Carsten. Von einigen, die regelmäßig kommen, weiß er: Sie versorgen sogar noch Nachbarn mit. Andere kochen vieles ein - sehr im Sinne der Lebensmittelretter.
„Vieles, was vielleicht schon Dellen oder braune Stellen hat, kann man noch super weiterverwerten, zum Beispiel tolle Marmeladen daraus machen“, sagt er und gerät ins Schwärmen: Hedwig, die auch sehr regelmäßig vorbeischaue, mache sensationell gute Marmelade, lege viel Gemüse ein. Das Obst, das nicht mehr gut aussehe, nehme im normalen Verkauf niemand mehr mit, „aber die fertigen Marmeladen, die packt jeder gerne ein.“ Oft sei es eben Kopfsache, was im Müll lande.
Auch über eine Facebook-Gruppe werden Lebensmittel angeboten
Kerstin gehört mit 30 Jahren zu den jüngeren Lebensmittelrettern - einkochen tut sie aber auch gerne. An diesem Samstag wandern dafür Birnen und Aprikosen in ihre Taschen, dazu noch Banane. Und schließlich packt die Ergsterin noch einen ganzen Karton Kaffee-Pads ein, auch die waren im Supermarkt übrig, weil sie laut Mindesthaltbarkeitsdatum nur noch wenige Tage lang verkauft werden dürfen. „Toll, dass die Leute das so organisieren.“ Sie weiß, wie viel ehrenamtliche Arbeit dahintersteckt.
Neben dem Treffpunkt Garage sprechen sich die Lebensmittelretter auch über die Facebook-Gruppe „Die Lebensmittel-Retter“ ab - hier postet Kerstin zum Beispiel, wenn sie irgendwo Fallobst gesammelt hat und weist andere auf die Stelle hin. Und hier kann man auch verfolgen, was aus den geretteten Lebensmitteln wird. An diesem Samstag geht das sehr fix: Um 15 Uhr hat Kerstin sich Obst abgeholt, um 21.50 Uhr wird Vollzug gemeldet:
© Will, Jessica
„Da gibt es auch Postings wie: Ich habe zu viel Linsensuppe gekocht oder beim Grillen ist viel übrig geblieben. Kommt zu der und der Straße und holt es euch ab“, beschreibt Carsten. Regelmäßig postet er außerdem Bilder der „Neuzugänge“ - also der Lebensmittel, die bei den täglichen Touren neu dazu gekommen sind.
Die meisten Lebensmittel, die auf den Fotos zu sehen sind, stammen aus Supermärkten und vom Wochenmarkt. Dort gibt es zwei Fans der Lebensmittelretter, die man so eigentlich nicht erwarten würde - denn eigentlich wollen sie mit Lebensmitteln Geld verdienen. Die beiden Markthändler Frank Rest und Hakan Sahin unterstützen das Projekt regelmäßig mit Produkten, die bei ihnen übrig geblieben sind.
Markthändler steuern Obst, Gemüse und Milchprodukte bei
„Wegschmeißen oder anderen helfen?“ Diese Frage sei doch leicht zu beantworten, sagt Hakan Sahin. Er versucht an seinem Stand zwar auch, fleckiges Obst günstiger zu verkaufen, aber trotzdem bleibe immer etwas übrig.
Ab 13 Uhr fängt er samstags an, das Obst aussortieren, das er nicht weiterverkaufen kann. „Es ist schon hart, wenn man viel wegschmeißen muss. Wer mit Lebensmitteln arbeitet, schätzt sie auch“, sagt der 34-Jährige. Außerdem gelte auch hier: Eine Hand wäscht die andere. Was die Lebensmittelretter abholen, muss er nicht selbst entsorgen.
Besonders samstags wird viel geschleppt: Dann holt Carsten gleich kistenweise Obst vom Wochenmarkt ab. © Bernd Paulitschke
Auch Käsehändler Frank Rest ist voll vom Prinzip überzeugt: „Ich finde das einfach gut. Manchmal hat man einfach Sachen, die an dem Tag eben nicht laufen.“ Auch wenn man sorgfältig kalkuliere, bleibe so immer mal etwas übrig. „Und die nehmen auch Produkte mit, die schon nen Tag abgelaufen sind.“
Der Händler sammelt über die Woche im Kühlhaus, was übrig ist und gibt es den Lebensmittelrettern dann beim Wochenmarkt mit. An diesem Samstag landen so Ziegenkäse, große Becher Quark und Fruchtjoghurt in einer Pappbox, die Anja entgegennimmt und zum Auto bringt.
Frank Rest gibt den Lebensmittelrettern gerne Sachen mit, die bei ihm übrig sind. Quark, Joghurt und Ziegenkäse hat der Käsehändler an diesem Samstag für Anja zusammengestellt. © Jessica Will
Wenig später packt Carsten die Sachen in den kleinen Kühlschrank in der Sonnenstraße. Direkt daneben liegen eingeschweißte Sandwiches, Couscous-Salat und sogar Boxen mit Sushi – die Ausbeute der Abhol-Tour beim Supermarkt. Dazu kommen die Obstkisten vom Markt, die Tüten mit Gebäck – es ist erschreckend, wie viele Lebensmittel nur an diesem einen Samstag eigentlich im Müll gelandet wären.
In zwei Jahren über 250 Tonnen Lebensmittel gerettet
Als die Gruppe 2015 mit dem Projekt gestartet ist, hat Carsten noch abgewogen, wie viel die Gruppe einsammelte. „In zwei Jahren kamen wir auf 250 bis 300 Tonnen.“ Diese Arbeit spart man sich mittlerweile, weil man weiß: Das Konzept funktioniert, die Arbeit lohnt sich. „Es leuchtet ja jedem ein, dass es Schwachsinn ist, solche Mengen wegzuschmeißen“, sagt Carsten.
Und auch die Balance stimmt: „Das Verhältnis von dem, was wir reinkriegen, und was wir rausgeben, ist momentan sehr gut“, sagt er. Das liegt zum einen an der guten Arbeit der ehrenamtlichen Organisatoren - zum anderen aber auch daran, dass regelmäßig Menschen Lebensmittel mitnehmen, um sie vor dem Müll zu retten. Oder, wie Carsten sagt: „Es ist ein Geben und Nehmen. Nicht mit hundertprozentiger Quote, aber überwiegend geht es auf.“
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