Es musste irgendeine russische Schrift sein, dick gedruckt in kyrillisch anmutenden Buchstaben. Gelesen hatte sie vermutlich seit über 100 Jahren niemand mehr: Ein mysteriöses Fundstück zogen Zimmerleute bei den Sanierungsarbeiten hoch oben im Turmhelm der mittelalterlichen Viktorkirche am Markt in Schwerte aus einer schwer zugänglichen Nische hervor.
Irgendwo zwischen dem Gebälk hatte sich eine Zeitung aus dem Jahre 1910 versteckt, die überwiegend mit Zeichen aus dem Alphabet des östlichsten europäischen Nachbarlandes beschrieben schien. „Nr. 1“ war dort auch noch zu entziffern.
Eine Art frühes Anzeigenblatt
Die Handwerker erkannten die Bedeutung ihres historischen Funds und gaben ihn weiter in die Hände des zuständigen Pfarrers Hartmut Görler. Der zog Experten hinzu, um dem Geheimnis tiefer auf den Grund zu gehen. „Es handelt sich um eine elektrotechnische Fachzeitschrift“, nennt er den aktuellen Stand der Recherchen.
Offensichtlich muss das am Kopf als Nr. 1 bezeichnete Blatt als eine Art frühes Anzeigenblatt gedient haben: „Deutsche Firmen bewerben sich für den russischen Markt.“ Statt redaktioneller Texte füllen mehr oder weniger große Reklameblöcke die Seiten, beispielsweise für eine Julius Pintsch AG aus Berlin.

Während die Firmennamen noch in deutscher Schrift zu entziffern sind, geben die übrigen Angaben in den Werbebotschaften weiterhin große Rätsel auf. Daneben sind Abbildungen zu finden, die unter anderem Schraubverbindungen zu zeigen scheinen.
Ähnlich wie bei Wochenblättern wie dem Ruhr Boten, der jedes Wochenende kostenlos an die Schwerter Haushalte verteilt wird, fehlt am Kopf der Seite jeder Hinweis auf einen Verkaufspreis. Ausdrücklich genannt werden dagegen die Gebühren für das Anzeigengeschäft: 30 Pfennig pro Zeile. Wer auf der ersten Seite auf sich und seine Produkte aufmerksam machen wollte, musste einen Aufschlag von 50 Prozent zahlen. Denn dort wurden 45 Pfennig pro Zeile verlangt.
Zuletzt 1963 ein neues Dach
Aber wie konnte ein solches Blatt hoch oben in den Turm der Viktorkirche gelangen? Haben dort möglicherweise vor über 100 Jahren einmal Handwerker mit russischen Wurzeln dazu beigetragen, das stadtgeschichtlich so bedeutsame Bauwerk zu erhalten? Oder diente das Papier vielleicht ganz einfach zum Einhüllen und behutsamen Transportieren eines empfindlichen Materials? Fragen über Fragen, auf die es derzeit noch keinerlei Antworten gibt.
Fest steht, dass der Turm von St. Viktor im Jahre 1963 zum bislang letzten Mal eine neue Eindeckung aus Schieferplatten erhielt. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Zeitung auch schon 53 Jahre alt und wurde offensichtlich in ihrem Versteck belassen.
Oder sie blieb bei den damaligen Sanierungsmaßnahmen schlichtweg unentdeckt. Jetzt kam sie bei Ausbesserungen an den Balken des Turms zum Vorschein, der aus dem13. Jahrhundert stammt. An der untersten Reihe der Konstruktion, die direkt auf dem Sockel aus Mauerwerk ruht, hatte der Zahn der Zeit genagt. Teile der rund 700 Jahre alten Hölzer waren ein wenig angefressen.
Baugerüst wird aufgestockt
Die Vorarbeiten dienen der Neuverschieferung des Turmhelms, die etwas mehr als 60 Jahre nach der letzten Maßnahme erneut fällig ist. „Die Eindeckung hält keine 100 Jahre, je nach der Qualität des Schiefers“, weiß Bruno Giersch, der als früherer Presbyter die gesamte Renovierungsphase der Marktkirche mit aufmerksamen Augen mit begleitet hat.
Der Fortgang der Arbeiten soll bald auch vom Marktplatz aus deutlich sichtbar werden. Am Montag (7.4.) werden laut Pfarrer Görler die ersten Elemente angeliefert, um das Baugerüst am Turm weiter aufzustocken. Der Austausch des Schiefers werde dann in drei Etappen vorgenommen. Sämtliche alten Platten auf einmal abzunehmen, ist nicht möglich. Dann wäre die Turmspitze zu leicht und ein Spielball für einen Sturm. Denn sie ruht allein wegen ihres großen Gewichtes von über 60 Tonnen seit jeher fest auf dem Gemäuer. Eine Befestigung gibt es nicht.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 4. April 2025.