Da stutzte der Eisenbahnfreund. Eigentlich ist er quasi mit jedem Schotterstein auf den Gleisen rund um die Ruhrstadt per Du. Aber was Wolfgang Güttler da beim Durchblättern in einem Buch über das frühere Eisenbahn-Ausbesserungswerk (AW) Schwerte-Ost entdeckte, konnte er kaum glauben: In einer der Hallen, in denen normalerweise tonnenschwere Dampflokomotiven repariert wurden, werkelten auf einem Foto junge Männer an einem Segelflugzeug.
Reichsbahn fördert Flieger-HJ
Die Bildunterschrift verriet: „1934 machten sich Lehrlinge unter Bauleiter Feige daran, den Luftraum zu erobern.“ Im weiteren Text wurde berichtet, dass das AW Schwerte wegen seiner laufenden Modernisierung bei der damaligen Deutschen Reichsbahn (DR) für seinen „Modellcharakter“ gerühmt wurde. Ab Mitte der 1930-er Jahre habe es als eines der neuzeitlichsten und bedeutendsten Ausbesserungswerke für Lokomotiven gegolten.

Modern ausgestattet, das ist schön und gut. Aber: „Was macht ein Segelflugzeug im Dampflok-Ausbesserungswerk?“ Diese Frage ließ Wolfgang Güttler und die Eisenbahnfreunde Schwerte nicht mehr los. Glücklicherweise hüten sie in ihrem Archiv zwei Bücher, in die alle gesammelten Zeitungsausschnitte der örtlichen Presse von 1924 bis 1987 eingeklebt sind, die über das Werk veröffentlicht wurden. Nach und nach wurden die in altertümlicher Schrift gedruckten Berichte ausgewertet, wie Wolfgang Güttler beschreibt. Fündig wurden die Fans schließlich, als ihnen einen Artikel der Schwerter Zeitung vom 17. Dezember 1938 in die Hände fiel: „Die Überschrift lautet: Reichsbahn fördert Flieger-HJ/Bau von Werkstätten und Flugzeugen.“
Werkstätten für die Flieger-HJ
Schwerte, so ist in dem Text zu erfahren, war eines von mehr als 50 Eisenbahn-Ausbesserungswerken in ganz Deutschland, die der Hitlerjugend (HJ) - die damalige Jugendorganisation des Staates - Segelflugbauwerke zur Verfügung gestellt hatten. Grundlage bildete eine gemeinsame Verfügung des Reichsverkehrsministeriums und der damaligen Reichsjugendführung, mit der die Förderung der sogenannten Flieger-HJ durch die Reichsbahn) geregelt wurde. „Danach stellt die DR für die Ausbildung der Flieger-HJ Werkstätten zum Bau von motorlosen Flugzeugen zur Verfügung sowie Gleit- und Segelflugzeuge, Flugzeugtransportwagen, Segelflugzeughallen und Geldmittel“, las Wolfgang Güttler weiter.

Auch der Hintergrund für diese Partnerschaft wurde deutlich. „Diese Unterstützung erfolgt in der Absicht, den Lehrlingen und jugendlichen Arbeitern der DR die Möglichkeit einer fliegerischen Ertüchtigung zu verschaffen und auch andere Jungen, die nicht bei der Reichsbahn tätig sind, zum Segelfliegen zu erziehen“, zitiert der Eisenbahnfreund weiter. Damit solle geeigneter und zahlenmäßig ausreichender Nachwuchs für die deutsche Luftfahrt gewährleistet werden.
Wettkampf in Oerlingshausen
Wie erfolgreich die Schwerter Segelflieger mit ihrem selbstgebauten Flugzeug „Baby 2“ waren, zeigte ein weiterer Zeitungsbericht. Vom 1. bis 11. Juni 1939 nahmen sie an einem Ausscheidungswettkampf für die besten Flieger Westfalen in Oerlinghausen teil. Ein zehnköpfiges Team - allesamt Beschäftigte des Ausbesserungswerks - war mit Autos, Anhängern und ihrem Flieger zu dem Ort am Teutoburger Wald gefahren. Als Piloten dabei waren die beiden 19-Jährigen Stüber und Vogelsang.

Bei mehreren Starts segelten das selbstgebaute Flugzeug insgesamt 369 Kilometer weit. Bei 190 Kilometern davon saß Vogelsang im Cockpit, bei 179 sein Vereinskamerad Stüber, der das silberne Segelflugleistungsabzeichen errang. Die Segelflugkurse, an denen Schwerter Flugschüler reichlich teilnahmen, zeigten ihren Erfolg. Die Schwerter Zeitung nennt das wahre Ziel dieser Vorbildung für den späteren Leistungs- und Motorflug: „...um später ein würdiger Nachwuchs für unsere Luftwaffe zu werden.“
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