Es ist Freitagvormittag und in der „Feuerteichschänke“ in der Schwerter Innenstadt sind schon ein paar Stammgäste versammelt. Sie bestellen Bier, Schnaps, und ab und zu einen „Roten“. Frank „Pocke“ Simon (56) zapft, schenkt ein, bringt Gläser und Pinnchen flink zu den Tischen. „Pocke, die nächste Runde geht auf mich“, sagt einer. Alles klar.
Noch vor eineinhalb Jahren musste der 56-Jährige nach jeder Zapfrunde erst einmal eine Pause einlegen. Denn da wog er knapp 170 Kilogramm. „Wenn ich aufstand, sagten die Gäste: Er bewegt sich, lass uns schnell was bestellen, bevor er wieder sitzt“, erzählt er und lacht. Es ist ein befreites Lachen.

„Vier Döner waren nichts für mich“
Warum hatte der ursprünglich sportliche Mann, der jahrelang Fußball gespielt hat, so enorm zugelegt? „Ich war süchtig nach Essen“, sagt er heute. „Vier Döner hintereinander waren nichts für mich, und eine Stunde später hatte ich wieder Hunger.“
Nach einer großen Pizza futtert er ohne Probleme ein oder zwei Lasagnen. Montags geht er zum Griechen, dienstags zum Türken, mittwochs zum Italiener. Und bestellt dort nur die kalorienhaltigen Sachen – „Salat war ein Fremdwort für mich.“
Abends und während der Arbeit in der Schänke snackt er Schokolade und Chips. Manchmal müssen die Gäste sogar mit anpacken – wenn eine neue Getränkekiste aus dem Keller geholt werden muss, zum Beispiel. Das schafft er schon gar nicht mehr. Sein Blutdruck ist viel zu hoch; er muss Tabletten nehmen, hat Herzprobleme. Doch mit dem Essen kann er nicht aufhören. „Ich weiß nicht, ob ich heute noch leben würde, wenn es so geblieben wäre.“
Weinend auf der Bettkante
Der Wendepunkt kommt im Türkeiurlaub mit seinen Freunden im Mai 2022 – bei einem morgendlichen Blick in den großen Spiegel auf seinem Hotelzimmer. Pocke, nur mit seiner Badehose bekleidet, schaut sein Spiegelbild lange an. Von vorn, von der Seite. Dann setzt er sich auf die Bettkante und weint. „So wollte ich nie aussehen.“
Beim Hotelfrühstück an diesem Morgen ist Pocke ungewohnt ruhig. Die Kollegen fragen, was los sei. „Warum habt ihr mir denn nie gesagt, dass ich so ein fettes Schwein geworden bin?“, fragt er. Sie antworten: „Pocke, das sagen wir dir doch jeden Tag.“
An diesem Morgen beschließt Pocke, dass er abnehmen wird. Seine Freunde glauben ihm nicht alle auf Anhieb. Doch Pocke meint es ernst.

Nach dem Urlaub begibt er sich in ärztliche Behandlung. Er bekommt für Oktober 2022 einen Termin für eine Magenverkleinerung im Adipositaszentrum im Schwerter Marienkrankenhaus. Vorher muss er öfter zu vorbereitenden Untersuchungen – zur Ernährungsberatung, zum Messen der Werte, zum Wiegen.
Er sieht die überdimensionale Waage im Untersuchungsraum und fragt die Ärztin: „Ist die für Elefanten? Das passt ja.“ Die Waage zeigt 172 Kilogramm an. Als die Ärztin diagnostiziert, dass er adipös sei, entgegnet er: „Sie meinen fett.“
An einem Dienstag im Oktober ist es dann soweit: In einem minimalinvasiven Eingriff wird sein Magen verkleinert; er bekommt einen Magenbypass. Die Nacht nach dem Eingriff verbringt Pocke wegen seiner Herzschwäche zur Beobachtung auf der Intensivstation.
Am Donnerstag kann er das Krankenhaus wieder verlassen. „Ich hatte ein bisschen Muskelkater, konnte aber normal laufen“, sagt er. Zwei Wochen lang nimmt er nur Brühe und Shakes zu sich; später dann pürierte Mahlzeiten.

Mandarinen und Tomaten
Und nach einer Weile kann Pocke auch wieder feste Nahrung zu sich nehmen. Mit einem großen Unterschied zu früher: Das Essen dauert einfach länger, das Sättigungsgefühl setzt viel früher ein. „Für ein Brötchen brauche ich ‘ne Stunde. Wenn ich eine Currywurst esse, ist sie kalt, bevor ich damit fertig bin.“
Außerdem stellt Pocke seine komplette Ernährung um. Während des Gesprächs fischt er aus dem Hinterzimmer der Schänke eine braune Papiertüte, mit Mandarinen vom Marktstand. „Die esse ich zwischendurch, oder kleine Tomaten, oder Weintrauben“, sagt er. „Das sind jetzt meine Süßigkeiten.“
Die Kilos werden immer weniger. Die Blutdruckwerte werden immer besser. Tabletten muss Pocke nicht mehr nehmen. Seit inzwischen drei Monaten hält er seine 78 Kilo. In der Ernährungsberatung schaut er immer mal wieder vorbei. „Mittlerweile darf ich da als gutes Beispiel meine Geschichte erzählen“, sagt er. „Denn nicht alle schaffen es, ihr Gewicht zu halten. Man muss dabei bleiben.“

Während er erzählt, gehen weiter Bestellungen ein: „Pocke, hömma auf, die junge Frau vollzulabern und zapf‘ uns noch ‘ne Runde.“ Seinen Spitznamen wird er wohl auch in Zukunft behalten – doch das macht ihm nichts aus. „So heiße ich seit meiner ersten kleinen Pocke, und die hatte ich mit Anfang 20.“ Zwischendurch wollen die Gäste ihn ärgern – dann bestellen sie ihr Bier und ihren Schnaps bei „Streichholz“. Aber die meisten bleiben bei „Pocke“.
Der 56-Jährige ist heute richtig glücklich. „Ich trage keine T-Shirts in XXXXXL mehr, sondern in M. In M! Ich esse alles, worauf ich Hunger habe. Endlich habe ich auch mal richtig Appetit, und schlinge nicht nur. Und ich schmecke richtig, was ich esse. Ich hab sogar angefangen zu kochen.“ Auch in Bewegung ist er wieder gekommen. Regelmäßig fährt er Rad oder macht Spaziergänge – soweit die Knie mitmachen.
Ein neues Leben
Ist Pocke ein anderer Mensch geworden? Der 56-Jährige überlegt kurz. In der Stadt laufen manchmal die Leute an ihm vorbei, ohne ihn sofort zu erkennen. „Ich bin schon ein anderer Mensch“, sagt er dann. „Aber eigentlich auch derselbe wie immer.“
Eines ist sicher: Frank „Pocke“ Simon genießt sein neues Leben. Und er freut sich auf den Türkei-Urlaub, der in diesem Mai wieder ansteht. Vor dem großen Spiegel hat er jetzt jedenfalls keine Angst mehr.