Kinder- und Jugendpsychotherapeut Dr. Christian Lüdke hat mit uns über die Netflix-Serie „Squid Game“ gesprochen, die momentan Eltern und Lehrer beunruhigt. Er warnt vor einer „explosiven Mischung aus Spielen und Töten“. © picture alliance/dpa/Netflix

Kinder- und Jugendpsychotherapeut

Experte warnt vor Squid Game: „Explosive Mischung aus Spielen und Töten“

Kinder- und Jugendpsychotherapeut Dr. Christian Lüdke beantwortet uns regelmäßig Fragen zu Themen, die Eltern bewegen. Heute geht es um die Netflix-Serie „Squid Game“.

Schwerte, Kreis Unna

, 17.11.2021 / Lesedauer: 4 min

Die Netflix-Serie „Squid Game“ aus Südkorea besorgt Eltern und Lehrer. In der Serie treten Menschen in scheinbar harmlosen Kinderspielen gegeneinander an, um ein hohes Preisgeld zu gewinnen. Doch wer es nicht in die nächste Runde schafft, wird getötet. Warum die Serie so eine Faszination ausübt, hat uns Dr. Christian Lüdke erklärt.

Was halten Sie von der Serie „Squid Game“, haben Sie schon mal hineingeschaut?

Ja, ich kenne die Serie und finde sie ätzend. Sie ist für Kinder und Jugendliche absolut ungeeignet.

Die Serie ist ab 16 Jahren freigegeben, doch selbst Grundschüler ahmen die Spiele in der Schule nach. Es setzt gezielt Ohrfeigen oder ähnliche „Strafen“. Ein Schulleiter aus Lünen hatte Eltern darauf aufmerksam gemacht.

Ja, ich habe das gelesen. Und in Dortmund ist es teilweise noch krasser, da kommen die Kinder sogar in rot und grün gekleidet zur Schule. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Elternbriefen verschiedener Schulen, in denen Verbote ausgesprochen werden – zumindest was die Kommandos aus der Serie angeht.

Was macht die Faszination solcher Gruppenspiele aus? Liegt es daran, dass es sich um eine Art Mutprobe handelt, und man dabei einen Nervenkitzel verspürt?

Nein, mit einer Mutprobe oder einem Nervenkitzel hat das nichts zu tun, sondern hier bedient sich Netflix zweier bekannter psychologischer Phänomene.

Eine Szene aus der 1. Staffel der Netflix-Serie „The Squid Game“. Lüdke sagt: „Die Figuren erscheinen sympathisch. Das ist Strategie.“ © picture alliance/dpa/Netflix

Welche Phänomene sind das?

Zum einen geht es um das Phänomen von Serien ganz allgemein. Die handelnden Personen werden uns mit der Zeit immer vertrauter und wir identifizieren uns mit ihnen. Dieses Gefühl der inneren Sympathie für meine favorisierte Rolle hilft uns dabei, uns von eigenen Alltagsproblemen zu distanzieren. Und durch das Schauen der Serie wird unser Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert – wir fühlen uns einfach besser. Dadurch kommt es zu emotionalen Abhängigkeiten: dem Wunsch, eine Serie nach der anderen oder eine Staffel nach der anderen zu schauen.

Und bei Squid Game ist das genauso?

Genau mit diesem Mechanismus arbeitet auch Squid Game – bis hin zu den Merchandise-Artikeln ist alles von Anfang an durchdacht und geplant. Es ist ein uraltes Kinderspiel, und die Titelfigur war jahrzehntelang auf den Covern der Schulbücher. Also: Auch hier erscheinen die Figuren erst mal sehr vertraut und man identifiziert sich mit ihnen.

Sie haben anfangs zwei psychologische Phänomene erwähnt. Welches ist neben der emotionalen Abhängigkeit das zweite?

Ein zweiter Effekt hat etwas mit der Nutzung sozialer Medien und Streamingdienste insgesamt zu tun. Es ist das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn ich nicht permanent online bin und mache, was die Community beschäftigt. Man nennt das FOMO („fear of missing out“ – Angst, etwas zu verpassen). Hier wird eine Art Gruppendruck erzeugt und ich werde Außenseiter, wenn ich die Serie nicht gesehen habe.

Schickes Kostüm oder erschreckender Trend? Die Netflix-Serie sorgt für Unruhe unter Eltern und Lehrern. © picture alliance/dpa

Weiterhin spricht Squid Game auch die emotionale Lage an: Es geht um Perspektivlosigkeit des eigenen Lebens und den Wunsch nach einem großen materiellen Gewinn, der alles verändert. Solche Mechanismen kennen wir in Trashformaten, wo Menschen vorgeführt werden, um Menschen zu belustigen. Und das ist zutiefst menschenverachtend. Schauen wir uns nur die Formate an von Love Island, Bachelor bis Big Brother und dem Dschungelcamp. Dann sehen wir, wie die menschliche Psyche tickt. Wozu Menschen sich hinreißen lassen, nur um am Ende ein paar tausend Euro zu gewinnen.

Es ist also ein Gruppendruck: Das Kind fürchtet, ausgeschlossen zu werden, wenn es nicht bei solchen Aktionen mitmacht?

Ja klar, es ist ein bekanntes Phänomen des Gruppendrucks, insbesondere erzeugt durch die sozialen Medien. Hier sollten Eltern ihren Kindern Mut machen, dass es manchmal viel cooler und selbstbewusster ist, nicht jeden Trend mitzumachen. Das hat nichts mit Schwäche zu tun, sondern vielmehr mit Selbstbewusstsein, Stärke und mentaler Robustheit.

Ich kann mir aber vorstellen, dass es für Kinder schwierig ist, Nein zu sagen. Wie können Eltern da helfen?

Was ich bei der Serie so bedenklich finde, ist die explosive Mischung aus Spielen und Töten. Der Gewinner bekommt alles, alle anderen sind tot. Und die unterschwellige Botschaft lautet: „Auf gar keinen Fall verlieren! Niemals scheitern! Nur nicht schwach sein!“

Dr. Christian Lüdke (61) sagt: „Die Serie Squid Game ist ätzend.“ © privat

Besser, als etwas zu verbieten, ist es, wenn Eltern mit ihren Kindern vertrauensvoll über die Serie sprechen und hinterfragen, was sie daran so fasziniert. So bekommen Kinder die Gelegenheit, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren und dann möglicherweise zu verändern.

Welche Rolle spielt bei dem Thema grundsätzlich die Medienerziehung?

Sehr klar hat das auch etwas mit Medienerziehung zu tun, aber auch mit dem Freizeitverhalten und dem Sozialverhalten von Jugendlichen und ihrer Gruppe der Gleichaltrigen. Besser als Erziehung ist immer Beziehung. Eltern sollten sich dafür interessieren, was ihre Kiddies alles so in der Freizeit machen, wie sie die sozialen Medien nutzen und welche Filme sie sich bei Netflix anschauen.

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Wie sollten Lehrer reagieren, wenn sie Schüler bei solchen Spielen „ertappen“?

Sie sollten die Kinder zuerst einmal fragen, warum sie das Spiel so gerne spielen, was sie daran fasziniert, was ihnen Freude macht. Sie können dann auch fragen, ob sie möglicherweise Probleme sehen, die mit diesem Spiel verbunden sein könnten. Aus pädagogischer Sicht sollten Kinder und Jugendliche selbst motiviert werden, ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen. Lehrerinnen und Lehrer sollten also mit der Störung arbeiten und nicht gegen die Störung arbeiten.

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