Eisenbahn-Geschichte

Mega-Fabrik in Schwerte: Vor 100 Jahren eröffnete das Eisenbahn-Ausbesserungswerk

Es war einer der größten Wirtschafts-Coups der Stadt, als vor 100 Jahren die Ansiedlung des Eisenbahn-Ausbesserungswerks mit 4.000 Jobs gelang. Die Eisenbahnfreunde gingen auf Spurensuche.

Schwerte-Ost

, 06.10.2022 / Lesedauer: 4 min

Auf einen Schlag wuchs Schwerte nicht nur um einen neuen Mega-Arbeitgeber, sondern auch um einen ganzen Stadtteil. Vor 100 Jahren, am 1. Oktober 1922, wurde das Eisenbahn-Ausbesserungswerk (AW) in Schwerte-Ost eröffnet.

Mehr als 40.000 Dampflokomotiven sollten bis zur scheibchenweisen Schließung ab den 1960er-Jahren in den riesigen Hallen repariert werden, wie Wolfgang Güttler von den Eisenbahnfreunden Schwerte recherchiert hat.

Auf den ersten Spatenstich folgte der Erste Weltkrieg

Wegen seiner verkehrsgünstigen Lage – so berichtet der Experte – war die Ruhrstadt von der Königlichen Eisenbahndirektion Elberfeld für das Großprojekt ausgewählt worden. Der Bau begann bereits 1914, wurde aber durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen und erst ab 1919 weitergeführt.

In Schwerte entstand eine der größten Eisenbahnwerkstätten Deutschlands, für deren Beschäftigte gleich hinter den Werksmauern eine Arbeitersiedlung mit großzügigen Gartenanlagen hochgezogen wurde. Auch ein eigener Bahnhof „Schwerte (Ruhr) Ost“ entstand gegenüber des Eingangstors 1.

Das riesige Werksgelände des AW Schwerte in den 1930er-Jahren: Im Hintergrund ein Straßenzug der Kreinbergsiedlung, die ausschließlich für die Beschäftigten aus dem Boden gestampft wurde. © Klaus Tillmann

„Die erste in Schwerte ausgebesserte Lok war eine preußische G8 mit der Nummer 5.706. Sie erhielt im Werk neue Achsen“, berichtet Wolfgang Güttler. Zumindest die Premiere nach offizieller Zählung. Denn klammheimlich wurden schon einige Wochen vor der Eröffnung in den Hallen drei fabrikneue Loks repariert, die auf der Überführung vom Herstellerwerk Jung im Siegerland zum Hamburger Hafen mit heißgelaufenen Achsen in Schwerte gestrandet waren.

Weil im Lokschuppen am Schwerter Bahnhof keine schweren Kräne zur Verfügung standen, brachte man die Maschinen ins fast fertige Ausbesserungswerk. Danach konnten sie zu ihrem Ziel, Odessa in Russland, verschifft werden. Dort hatte man übrigens spezielle Kessel für Holzfeuerung bestellt.

Erschließungsstraße trägt den Namen des zweiten Werksdirektors

Regierungsbaurat Soder, der zum Start als erster Werkdirektor von Neumünster nach Schwerte-Ost versetzt worden war, konnte zufrieden sein mit seiner Mannschaft. Weil dieser Gründungschef schon im Dezember 1922 starb, übernahm ab Mai 1923 der Reichsbahnoberrat Ernst Gremler die Leitung. Nach ihm wurde später die Straße benannt, die das Werksgelände für die neue Nutzung als Gewerbegebiet erschließen sollte.

Das Eisenbahn-Ausbesserungswerk Schwerte verfügte sogar über eigene kleine Rangierloks, um die zur Reparatur angelieferten großen Dampfloks von Halle zu Halle zu schieben. © Klaus Tillmann

Ernst Gremler kam zu einer schwierigen Zeit. Als bei der Ruhrbesetzung 1923 durch französische Truppen alle Deutschen zum passiven Widerstand aufgerufen wurden, ließen auch seine Arbeiter die Arbeit ruhen. Doch trotz aller Schwierigkeiten verließ am 15. Dezember 1924 die 500. reparierte Lok das Schwerter Werk, wie Wolfgang Güttler weiß: „Es handelte sich um eine T18 mit der Bezeichnung ,Essen 8.460´.“

Das riesige Werksgelände des AW Schwerte in den 1930er-Jahren: Im Hintergrund ein Straßenzug der Kreinbergsiedlung, die ausschließlich für die Beschäftigten aus dem Boden gestampft wurde. © Klaus Tillmann

Im Zweiten Weltkrieg wurden in Schwerte fast nur noch schwere Güterzuglokomotiven ausgebessert. Wegen der vielen Reparaturen an Schadlokomotiven wurde die 63-Stunden-Woche eingeführt. Fremdarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge mussten mitarbeiten. Bis 1943 erreichte die Beschäftigtenzahl die Marke von 4.000.

Das Ende der Dampflokomotiven führte zur Schließung

Schon bald nach dem Krieg erreichte der Leistungsstand des Ausbesserungswerkes wieder das Vorkriegsniveau. Die jährliche Anzahl der reparierten Lokomotiven lag bei rund 850 Maschinen. Außerdem versorgte das AW Schwerte andere Werke der Bundesbahn mit Ersatzteilen.

Die Massenanfertigung, Teilevielfalt und hohe Qualität – so Wolfgang Güttler – waren der Garant für die Wirtschaftlichkeit und Konkurrenzlosigkeit im Vergleich mit anderen Werkstätten.

Ein Blick in die große Lokhalle in den 1930er-Jahren zeigt, wie die Dampflokomotiven bei der Untersuchung komplett zerlegt wurden. Mächtige Kräne hoben die tonnenschweren Kessel von den Fahrgestellen ab. © Klaus Tillmann

Doch das Ende der Dampflok-Ära begann sich Ende der 1950er-Jahre unwiderruflich abzuzeichnen. Das Auftragspolster bei der Dampflokausbesserung schrumpfte und damit auch die Belegschaft. „Mitte der 1960er-Jahre waren nur noch 1.200 Arbeiter im Werk beschäftigt“, berichtet der Eisenbahnfreund.

1967 seien erste Schließungspläne geschmiedet worden und schon am 19. Oktober desselben Jahren stampfte die letzte in Schwerte ausgebesserte Lok vom Gelände: „Die Güterzuglok 50 1751 vom Betriebswerk Paderborn war die 43.869. reparierte Lok.“

Von Schwerte fuhren „Giganten der Schiene“ in die Atomkraftwerke

Trotz Schließungsplänen seitens der Bundesbahn-Zentrale ging es in Schwerte-Ost zunächst weiter. Jetzt kamen ausgemusterte Dampflokomotiven zur Verschrottung ins Werk. Außerdem konnte die Wartung von Flach- und Tiefladewaggons übernommen werden.

Ab 1968 erhielt das jetzige „Sonderwerk“ die Aufgabe, Schwerlastwaggons zu unterhalten. Darunter waren auch die „Giganten der Schiene“, wie Wolfgang Güttler sie nennt: 32-achsige Tragschnabelwaggons mit einem Ladegewicht von über 450 Tonnen, die unter anderem beim Bau der Kernkraftwerke zum Einsatz kamen.

Schon im Dezember 1924 konnte die 500. reparierte Dampflok das Eisenbahn-Ausbesserungswerk verlassen. © Sammlung Klaus Tillmann

Am schleichenden Ende änderte das alles nichts mehr. Am 30. März 1983 verlor man den Status als eigenständige Dienststelle. Die letzte Schwerter Meisterei, die unter anderem Zugschluss-Laternen und Hemmschuhe produzierte, wurde dem AW Witten angegliedert.

In die verlassene Werkshallen und Gebäude zogen nach und nach Stahlbetriebe ein. „Die Hallen mit ihren großen Krananlagen bildeten einen idealen Standort“, erklärt Wolfgang Güttler. Nahezu alle Gebäude, die unter Denkmalschutz gestellt wurden, konnten weiter genutzt werden.

Heute befinden sich auf dem Gelände rund 35 Firmen. Die ebenfalls denkmalgeschützte Wohnsiedlung am Kreinberg, in der Eisenbahner zur Seltenheit geworden sind, steht nicht nur bei jungen Familien und Singles hoch im Kurs.

Jetzt lesen

Vielen Dank für Ihr Interesse an einem Artikel unseres Premium-Angebots. Bitte registrieren Sie sich kurz kostenfrei, um ihn vollständig lesen zu können.

Jetzt kostenfrei registrieren

Einfach Zugang freischalten und weiterlesen

Werden auch Sie RN+ Mitglied!

Entdecken Sie jetzt das Abo, das zu Ihnen passt. Jederzeit kündbar. Inklusive Newsletter.

Bitte bestätigen Sie Ihre Registrierung

Bitte bestätigen Sie Ihre Registrierung durch Klick auf den Link in der E-Mail, um weiterlesen zu können.
Prüfen Sie ggf. auch Ihren Spam-Ordner.

E-Mail erneut senden

Einfach Zugang freischalten und weiterlesen

Werden auch Sie RN+ Mitglied!

Entdecken Sie jetzt das Abo, das zu Ihnen passt. Jederzeit kündbar. Inklusive Newsletter.

Sie sind bereits RN+ Abonnent?
Jetzt einloggen