Nach Schwerte führt die Spur einer Bibel, die auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs gefunden wurde. Wer war ihr Besitzer? Und wie kam die Heilige Schrift schließlich nach England?
Von Panzerketten zerfurcht sind Wiesen und Felder rund um die nordfranzösische Kleinstadt Cambrai. Irgendwo auf dem zerschundenen Boden liegt eine kleine Bibel im Dreck. „Alex Rahlenbeck Schwerte/Westfalen“ steht in der Innenseite des Deckels geschrieben. Ein englischer Soldat hebt das verlorene Buch auf. Es ist der 20. November 1917, der als Tag der ersten großen Panzeroffensive in die Militärgeschichte eingehen soll. Mit mehr als 350 Tanks - wie die Briten ihre furchteinflößende neue Angriffswaffe nennen - versuchen sie, eine Wende des in festgefahrenen Fronten erstarrten Ersten Weltkriegs zu erzwingen. Ohne großen Erfolg, wie man schon nach drei Kampfeswochen weiß.
Museumsbesucherin bringt Fundstück mit
101 Jahre später, als ein kleines Museum in der englischen Grafschaft Norfolk eine Sonderausstellung zum Ersten Weltkrieg aufbaut, taucht die Bibel plötzlich wieder auf. Eine Besucherin zieht sie aus der Tasche und erzählt, wie ihr Großvater die Heilige Schrift auf dem Schlachtfeld von Cambrai gefunden habe. Schon länger habe sie gerätselt, ob es wohl noch Familienangehörige des ursprünglichen Besitzers gebe. Das wollen die Museumsleute jetzt auch wissen. Bei einer Internetsuche per Google finden sie heraus, dass Schwerte/Westfalen inzwischen eine Städtepartnerschaft mit dem englischen Hastings verbindet. Über deren Arbeitskreise auf beiden Seiten des Ärmelkanals kommt zwar nicht das Buch selbst, aber zumindest die Nachricht von seiner Entdeckung zurück in die Ruhrstadt. Hier erinnern sich Ältere spontan, dass der Namenszug Rahlenbeck noch bis Anfang der 1990er-Jahre über zwei Fachgeschäften in der Innenstadt leuchtet: einem Haushaltswarenladen an der Brückstraße und einem Waffenhandel an der Ostenstraße 9.
Bei der Panzerschlacht längst in Gefangenschaft
Das Haus an der Ostenstraße war auch das Elternhaus von Alex Rahlenbeck. Das ergibt die Spurensuche des Historikers Dr. Andreas Acktun, die mit einer Überraschung beginnt: Der Schwerter Bibelbesitzer war bei der blutigen Panzerschlacht von Cambrai, die mehr als 35.000 deutschen Soldaten den Tod brachte, gar nicht dabei! Er saß zu jener Zeit schon über ein halbes Jahr in britischer Gefangenschaft. „Nach englischen Angaben wurde er am 21. April 1917 in Loos/Französisch Flandern gefangen genommen“, sagt Dr. Acktun nach dem Archivstudium. Sehr wahrscheinlich wurde er als Mitglied einer Patrouille überwältigt, die den östlichen Frontabschnitt sichern sollte. Davon berichtet jedenfalls detailreich die Chronik vom „Anhaltischen Infanterie-Regiment Nr. 93 im Weltkriege“, in dem Rahlenbeck diente. Das Buch wurde wie eine Vielzahl von anderen Regimentsgeschichten in der frühen Weimarer Zeit gedruckt. Ein Exemplar blieb in der Bibliothek der Fernuniversität Hagen erhalten.

Alex Rahlenbeck war ein leidenschaftlicher Maler. Als Autodidakt schuf er nach der Rückkehr aus dem Krieg viele Ölbilder von Landschaften. © Klaus Kriesel
Einer von wenigen Kriegsfreiwilligen
Viele Männer blickten später offenbar mit einigem Stolz zurück auf die Einheiten, mit denen sie gegen den Feind gezogen waren. Alex Rahlenbeck, zu Kriegsbeginn gerade 18 Jahre alt, hatte sich sofort freiwillig zum Militär gemeldet - als einer von wenigen Schwertern. Die Zahlen, die Dr. Acktun ermittelt, widersprechen zumindest für die Ruhrstadt den Propagandabildern von jubelnden, anfangs so siegesgewissen Soldaten. „Nur 40 von 700 bis 800 Leuten, die eingezogen wurden, waren Kriegsfreiwillige“, erklärt er.
Schwere Verwundung durch Handgranaten
Rahlenbeck wurde mit seinem Regiment schon nach kurzer Ausbildung an die Westfront verlegt, wo er im Juli oder August 1915 bei Souchez (nahe Lens) höchstwahrscheinlich bei Handgranatenkämpfen schwere Verwundungen erlitt. Auf den Beinen zeigt ihn aber schon wieder eine Fotokarte, die er am 1. Oktober 1915 per Feldpost aus der Behandlung im Reservelazarett E in München zu seinem Vater Fritz Rahlenbeck schickte. Doch schon ein Jahr später wurde er - nunmehr zum Gefreiten befördert - bei Arras erneut leicht verwundet, kurz drauf in der Sommé-Schlacht ein drittes Mal. Als Auszeichnung heftete man ihm das Anhaltische Friedrichs-Kreuz am grün-roten Bande und das Eiserne Kreuz der zweiten Klasse an die Uniform.
Erst im Herbst 1919 in Schwerte zurück
Nach der Gefangennahme wurde Rahlenbeck auf die britische Insel gebracht, wo er im Dezember 1918 in einem Lazarett in Frampton-on-Severn die verheerende Influenza-Epidemie überstand. Nur aus der Ferne erlebte er den Untergang des Kaiserreichs und die Gründung der Weimarer Republik mit. „Die deutschen Kriegsgefangenen in Großbritannien wurden im Zeitraum vom 24. September 1919 bis 19. November 1919 repatriiert, sodass Alex spätestens im November 1919 wieder in Schwerte eintraf“, ermittelte Dr. Acktun.
Orden lagen in der Kiste
Über das Leiden in den Schützengräben, an das ihn eine Beinverletzung sein Leben lang erinnern sollte, sprach Alex Rahlenbeck in seiner Familie wenig. „Die Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg spielte keine große Rolle“, erinnert sich sein Enkel Klaus Kriesel: „Die Orden lagen in einer Kiste.“ Der 64-jährige, der heute als Journalist in der Schweiz lebt, hat in seiner Kindheit viel Zeit mit seinem Großvater verbracht. Er wuchs in dem Haus auf, das Alex Rahlenbeck mit seiner Frau Wilhelmine 1932 an der Brücherhofstraße in Dortmund-Hörde gebaut hatte. Das Ehepaar bekam zwei Töchter: Pauline Luise Sophie, die Mutter von Klaus Kriesel, und Else, die während des Zweiten Weltkriegs starb.

In der Bibliothek der Fernuniversität Hagen entdeckte der Historiker Dr. Andreas Acktun das Buch über die Geschichte des Regiments, in dem Max Rahlenbeck im Ersten Weltkrieg diente. © Dr. Andreas Acktun
Lehrer in Dortmund-Hörde
Ganz in der Nähe seiner Wohnung unterrichtete Alex Rahlenbeck als Lehrer in einer kleinen Vorort-Schule. Für den Enkel sehr praktisch, hatte er doch einen fachkundigen Berater bei den Hausarbeiten. Die besondere Leidenschaft seines Großvaters - so erinnert sich Klaus Kriesel - gehörte der Malerei. Als Autodidakt schuf er eindrucksvolle Ölgemälde auf Leinwand. Zum Beispiel ein Landschaftsbild, auf dem die Wellinghofer Kirche den Blick auf sich zieht. Sie spielte im Leben des ehemaligen Soldaten eine besondere Rolle, denn er engagierte sich stark in der dortigen evangelisch-lutherischen Gemeinde.
Seit der Jugend ein gläubiger Christ
Schon in jungen Jahren war Alex Rahlenbeck ein gläubiger Christ gewesen, wie die von der Evangelischen Gemeinde Schwerte gesammelten „Heimatgrüße“ von der Front deutlich machen. „Mit dankbarem Blick nach oben werde ich in den nächsten Tagen wieder hinausziehen und mit Gott treu meine Pflicht tun“, heißt es dort in einer Notiz. Da war es nur folgerichtig, die Bibel mit in den Schützengraben zu nehmen.
Mini-Bibel passte ins Sturmgepäck
Dass Soldaten während der Kämpfe Trost und Beistand in der Heiligen Schrift suchten, war damals nicht unüblich, wie der Hennener Pastor und Heimatforscher Friedhelm Arno Berthold weiß. „Die einfachen Leute nahmen die Bibel mit, die anderen hatten den Faust im Tornister“, sagt er. Damit die Bücher ins Sturmgepäck passten, habe es extra kleine Ausgaben zum Mitnehmen gegeben. In seiner Sammlung hütet Berthold ein Exemplar im Postkartenformat aus dem Jahre 1910, das gerade mal 243 Gramm leicht ist.
Gestorben 1983 in Witten
Alex Rahlenbeck sollte seine Weltkriegsbibel nie wieder in den Händen halten. Am 21. Dezember 1983 starb er in Witten. Aber wie war das Buch überhaupt nach Cambrai gelangt? Historiker Dr. Acktun hat dafür eine eigene Theorie: Die Heilige Schrift sei vielleicht bei der Gefangennahme am 21. April 1914 in den Besitz eines englischen Soldaten gelangt. Ob der sie dann womöglich später bei der großen Panzerschlacht verloren hat, bleibt wohl für immer ein Rätsel. Genauso wie die Frage, ob dieser Soldat wie Alex Rahlenbeck lebendig in die Heimat zurückkehren durfte.
Reinhard Schmitz, in Schwerte geboren, schrieb und fotografierte schon während des Studiums für die Ruhr Nachrichten. Seit 1991 ist er als Redakteur in seiner Heimatstadt im Einsatz und begeistert, dass es dort immer noch Neues zu entdecken gibt.
