Sie denke immer noch an den Kinderwagen im Hausflur: Hier sind Kinder im Haus, die müssen hier raus! Knapp eine Woche nach dem Dachstuhlbrand an der Reichshofstraße in Schwerte-Westhofen hat Angie Küntzle (46) das Erlebte noch nicht ganz verarbeitet. Marvin Schlecking geht es ähnlich: „Mir fehlen immer noch die Worte, irgendwie steigt das immer wieder in den Kopf“, sagt der 24-Jährige.
Gemeinsam mit Angie steht er vor dem weiß-roten Flatterband der Polizei, schaut hinauf zu dem rußgeschwärzten Fenster des gelben Hauses, dessen Dachstuhl am Freitag (12.4.) vergangener Woche in Flammen stand. Direkt daneben auf gleicher Höhe: sein Schlafzimmer-Fenster. Er war wach geworden an besagtem Morgen, hatte gemeinsam mit seiner Nachbarin die Bewohner aus dem Haus geholt. Es ist die Geschichte hinter der Nachricht, dass elf Menschen vor dem Feuer gerettet werden konnten.

„Die Leute schlafen da noch!“
12. April, etwa 5.40 Uhr: Angie fährt wie immer zur Arbeit. „Schon auf der Auffahrt habe ich eine große schwarze Rauchwolke gesehen“, erzählt sie. Sie fährt vorbei, dann aber noch einmal zurück, schaut sich die Häuser an und sieht, dass der Rauch von oben kommt – aus dem Dachstuhl der Hausnummer 145.
Angie ruft die Feuerwehr, trifft einen Nachbarn. Es mag im Nachhinein leichtsinnig gewesen sein, doch die 46-Jährige funktionierte in dem Moment nur noch, wie sie selbst sagt. „Wir sind Richtung Haustür gelaufen, haben gesehen, dass alles dunkel war in dem Haus.“ Ihr wird bewusst: Die Leute schlafen da noch!

Angie und Marvin versuchen zu klingeln. „Die Klingeln funktionierten aber nicht.“ Und jetzt? Einfach rein da? „Wir sind rein, ich habe noch einen Kinderwagen gesehen“, erzählt die Nachbarin gefasst, und gleichzeitig doch angespannt.
Ein paar Tage später blickt sie auf die Haustür mit dem Zettel: „Betreten verboten!“ – seit dem Brand am Freitag ist das Mehrfamilienhaus nicht mehr bewohnbar, der Dachstuhl nur noch eine Ruine. Nur kurz durften die Bewohner seitdem in ihre Wohnungen, um persönliche Gegenstände herauszuholen. Die Tür ist versiegelt – in den frühen Morgenstunden des 12. April soll sie offen gestanden haben. „Komplett offen“, bestätigt Marvin.

„Rauch kam direkt in mein Gesicht“
Am Tag des Feuers wird er wach, hat Rauchgeruch in der Nase, denkt zuerst an ein brennendes Ladekabel. Den Geschmack hat er schon im Mund, als er im Haus nebenan sein Fenster öffnet. „Ich habe diese Riesenrauchwolke gesehen, der Rauch kam vom Nachbarhaus direkt in mein Gesicht.“ Er rennt runter, ruft noch zu seiner Frau: „Es brennt, ruf deine Eltern an!“
Im Haus selbst „haben wir wie die Irren vor diese Türen gehämmert“. Lärm im Flur, ein Wummern an der Wohnungstür, Nachbarn im Haus, die Leute sind überrascht. „Die Mutter oben in der Wohnung fragte: ‚Was ist los?‘ Sie hat gesagt: ‚ich muss mein Baby holen‘“, erzählt Angie.
Die Mutter holt das Baby, Angie kümmert sich um die beiden Kleinkinder. „Ich habe den Jungen irgendwie in meine Arme gepackt und das Mädchen an die Hand genommen.“ Sie schaffen es ins Freie, später werden die Bewohner des Hauses in der angrenzenden Tankstelle betreut.
„Hätte mir das niemals verzeihen können“
Angie macht sich auf den Weg zur Arbeit, noch bevor die Feuerwehr eintrifft und der Dachstuhl komplett in Flammen steht. Für Marvin geht es zwei Häuser weiter zu den Schwiegereltern. „Wir haben das erst mal alles sacken lassen“, sagt er.
Es ist die Geschichte hinter der Nachricht – sie ist gut ausgegangen, dank Angie und Marvin und der Feuerwehr, die ein weiteres Ausbreiten der Flammen verhindern konnte.

Die Bilder aber wabern immer noch durch die Gedanken. „Morgens, wenn ich an dem Haus vorbeifahre, gucke ich nach oben“, sagt Angie. Sie lächelt, ist froh, noch einmal umgekehrt zu sein. „Ich muss immer an diesen Kinderwagen denken, der da im Hausflur stand. Wenn ich vorbeigefahren wäre, hätte ich mir das niemals verzeihen können.“
Wo ist der Mieter der Dachwohnung?
Und Marvin? Schaut er raus aus seinem Schlafzimmerfenster, sieht er den zerstörten Dachstuhl. „Bis jetzt hat man den Geruch noch in der Nase“, sagt er.
Der 56-jährige Mieter, der den Spitzboden bewohnt hat, wird auch Tage nach dem Feuer noch vermisst. Es gebe bislang keine Hinweise darauf, dass er sich noch in der ausgebrannten Dachwohnung befand.
Die Polizei im Kreis Unna geht von Brandstiftung aus.
