Diese Haltestelle steht in keinem Fahrplan. Sie wird auch nur höchst selten bedient. Nur alle 14 Tage einmal, wenn Oliver Hillen wieder einen neuen launigen Spruch auf die Tafel vor seiner Kneipe Haus Zier geschrieben hat. Als erstes – so erzählt er – bleibe dann der Bus auf der Reichshofstraße stehen, damit Fahrer und Passagiere schmunzeln können über Reime, die aktuell Gemeinsamkeiten zwischen alkoholfreiem Bier und einem BH herauskitzeln. Doch damit nicht genug der Aufmerksamkeit: „Selbst die Polizei bleibt stehen.“
Ende Mai ist Schluss
Seit mehr als anderthalb Jahrzehnten sind die Reime ein Hingucker in der Hauptstraße von Westhofen. Die Gäste unterstützen ihren Wirt dabei, bringen per Handyfoto Ideen mit, die sie im Urlaub aufgeschnappt haben. „Ich kriege viele Kommentare, wenn ich einen neuen Spruch hingestellt habe“, berichtet Oliver Hillen: „Aber auch das ist bald Geschichte.“
Ende Mai macht der 61-Jährige seine traditionsreiche Kneipe dicht: „Es hat keinen Sinn mehr.“ Zwei Jahre lang habe er die Entscheidung, mit der er sich schwer getan habe, vor sich hergeschoben. Er ließ morgens geschlossen, nahm einen Zusatzjob an. Doch auf Dauer noch Geld von diesen hart verdienten Einnahmen in die Kneipe zu stecken, das gehe nicht.

„Ich bin ein echtes Corona-Opfer“, erklärt Oliver Hillen: „Die Gesellschaft hat sich durch Corona völlig verändert.“ Sonst habe er zwei- bis dreimal in der Woche alle Tische voll gehabt mit Skatrunden. Jetzt hätten sich die Leute daran gewöhnt, sich eine Kiste Bier zu kaufen und zu Hause Karten zu spielen: „Mit einer Gaststätte, wo du nur ein Bier trinkst, da kriegste keinen hinterm Ofen mehr vor hier.“
Bei Schnitzeln, ja, da könnte man noch was verdienen. Aber nicht mit den Mettwürstchen unter der Tortenglocke auf dem Tresen oder der Dicken Sauerländer Bockwurst mit Senf, die beim Kneipenabend nur für die nötige „Unterlage“ im Magen sorgen sollen.
Vorher 20 Jahre bei Hoesch
Ganz anders war die Kneipenwelt noch gewesen, als der Wirt am 1. August 2000 das Haus Zier an der Reichshofstraße 107 übernahm. „Es war reiner Zufall“. erzählt er. Die Vorpächterin habe aufgegeben, und das Kaltwalzwerk von Hoesch in Hagen-Kabel, in dem er fast 20 Jahre malocht hatte, wurde verkauft: „Da bin ich zum Wirt geworden.“
Ein Glücksfall für das traditionsreiche Haus, das ursprünglich ein Familienbetrieb war. Die namensgebende Familie, deren Gaststube ursprünglich ein paar Häuser weiter in der heutigen Pizzeria Etna Napoli gewesen sei, habe das Gebäude Mitte der 1960er-Jahre gekauft und von einem Tante-Emma-Laden zur Kneipe umgebaut.

Oliver Hillen brachte das Talent zum Wirt mit Leib und Seele mit. Viel Herzblut steckte er in die Ausgestaltung der Räumlichkeiten, zu denen im hinteren Bereich um die Ecke noch ein Stammtisch und ein kleiner Saal gehören. „Hier stand der Ofen“, erinnert sich der 61-Jährige dort noch an viele Sup-Peiter-Feiern der Niedersten Nachbarschaft.
Hoch her ging es auch bei der von ihm selbst erfundenen Gegenveranstaltung „Sauf Petra“: „Für die Weiblichkeit aus Westhofen.“ Denn die war sonst vom höchsten Feiertag der Männerwelt des Ortes ausgeschlossen. Nach ein paar Jahren war aber schon wieder Schluss damit, die Frauen blieben aus. Und die Männerrunde wuchs so stark, dass sie größere Räumlichkeiten bei der Feuerwehr brauchte.
Wandgemälde von Alt-Westhofen
Liebevoll dekorierte Oliver Hillen seine Schankstube und den Saal immer gemütlicher. Von der Tret-Nähmaschine über die Lichterkette aus Plastik-Bierkrügen bis hin zur Bauernegge unter der Decke – in jedem Detail stecken seine Ideen. Nach denen schuf der Fassadenmaler Klaus Rosko auch im Oktober 2009 das wohl größte Kunstwerk des Ortsteils.
Die komplette Längswand des Tresenraums füllt seine Ansicht von Alt Westhofen. Sogar die längst verschwundene Straßenbahn rattert noch vorbei an den Fachwerkhäusern der Bauern. Es gibt jede Menge Details zu entdecken auf den 16 Quadratmetern, die dank des Rauchverbots kein Bisschen vergilbt ist: „Sonst hätte ich die Wand alle zwei Jahre streichen müssen.“

Was mit dem Wandgemälde nach dem Ende von Haus Zier passiert, ist ungewiss. Die Immobilie habe den Besitzer gewechselt, berichtet der Wirt. Wie er gehört habe, trage sich der Neue wohl mit dem Gedanken, das Objekt zu Wohnraum umzubauen. Da Oliver Hillen alles leerräumen muss, um zum 1. Juni die Segel zu streichen, plant er seinen letzten Öffnungstag vor Pfingsten.
Ähnlich wie seinerzeit im abgerissenen Haus Schneider überlegt er, vorher noch eine Art Räumungsverkauf zu organisieren. Danach ist Schluss mit der vorletzten Kneipe in Westhofen. Als der Wirt anfing, konnten die Gäste noch zu fünfen gehen. Bald ist nur noch der Sputnik am Alten Hellweg übrig.
Vereine verlieren ihre Heimat
Bis es soweit ist, kann man für die Erinnerung noch täglich außer dienstags ab 17 Uhr (am Wochenende zudem von 11 bis 14 Uhr beim Frühschoppen) die urige Atmosphäre am Tresen einatmen, wo noch fast jeden Abend die Knobelbecher tanzen – auch wenn die Reihen der Spieler sich gelichtet haben. Manche sind in die Jahre gekommen, dass sie bestenfalls am Abend zu Hause bleiben. Dafür kommen einige Holzener, die nach der plötzlichen Schließung ihrer Stammkneipe Haus Ledendecker nach Westhofen ausgewandert sind.
Sie müssen bald schon wieder einen neuen Treffpunkt finden. Genauso wie der Plattdeutsche Kreis und die 5. Kompanie der Reichshofschützen, die bei Zier ihr Vereinslokal hatten. Der Männerchor Westhofen probt ab dem Sommer in einem Raum unter dem Reichshofzimmer, Im Graben. „Die Vororte verwaisen alle, was die Kneipenkultur angeht“, bedauert Oliver Hillen. Ergste und Garenfeld habe diese Entwicklung schon vor einiger Zeit getroffen.
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